Der Pflichtteil im Erbrecht

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Verwirkung, Schenkung, Höhe - Was müssen Pflichtteilsberechtige wissen?

Bei erbrechtlichen Fragen fällt oft der Begriff Pflichtteil. Was ist ein Pflichtteil und wem steht dieser Pflichtteil eigentlich zu? Rechtsanwältin und Notarin Anja Holzapfel erläutert im Interview mit 123recht.de, worum es sich bei dieser erbrechtlichen Thematik handelt und was es zu beachten gibt.

"Pflichtteil ist eine gesetzlich garantierte Mindestbeteiligung"

123recht.de: Frau Holzapfel, was ist ein Pflichtteil im Erbrecht?

Rechtsanwältin Holzapfel: Der Pflichtteil ist eine gesetzlich garantierte Mindestbeteiligung am Nachlass eines Verstorbenen, die bestimmte enge Angehörige auch dann fordern können, wenn der Erblasser sie enterbt hat. Wer den Pflichtteil erhält, wird also nicht Erbe, sondern er hat einen Anspruch gegen den oder die Erben auf Zahlung eines bestimmten Betrages.

123recht.de: Wer hat Anspruch auf den Pflichtteil?

Rechtsanwältin Holzapfel: Pflichtteilsberechtigte sind der überlebende Ehepartner oder Lebenspartner bei einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, die Kinder einschließlich der Adoptivkinder, weiterhin Enkel oder Urenkel, wenn ihre Eltern und/oder Großeltern bereits vor ihnen verstorben sind, sowie die Eltern des Verstorbenen, wenn dieser keine Abkömmlinge, also Kinder, Enkel oder Urenkel, hinterlässt. Die Aufzählung der Pflichtteilsberechtigten ergibt sich aus § 2303 BGB.

123recht.de: Was ist mit Stiefkindern?

Rechtsanwältin Holzapfel: Stiefkinder sind nicht pflichtteilsberechtigt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sie von dem Ehepartner ihrer Mutter oder ihres Vaters adoptiert worden sind. Als Adoptivkinder sind sie pflichtteilsberechtigt.

Bei schweren Straftaten gegen den Erblasser kann der Pflichtteilsanspruch erlöschen

123recht.de: Kann der Pflichtteil auch entzogen werden?

Rechtsanwältin Holzapfel: Es ist möglich, einem Pflichtteilsberechtigten den Pflichtteil zu entziehen, allerdings nur unter sehr engen Voraussetzungen, die nur in den seltensten Fällen vorliegen. Hierzu zählen die böswillige Verletzung der Unterhaltspflicht gegenüber dem Erblasser, schwere vorsätzliche Straftaten, die eine Teilhabe am Nachlass für den Erblasser unzumutbar machen, sowie schwere Straftaten gegenüber dem Erblasser oder einem seiner nahen Angehörigen. Die Einzelheiten hierzu regelt § 2333 BGB.

Nach § 2336 BGB muss der Grund der Pflichtteilsentziehung in der letztwilligen Verfügung angegeben werden. Für solch komplexe Vorgänge empfiehlt sich die Errichtung eines notariellen Testaments, weil hier sichergestellt ist, dass der Notar, soweit die Voraussetzungen für die Entziehung vorliegen, den Sachverhalt rechtssicher formuliert.

123recht.de: Was ist die Verzeihung im Pflichtteilsrecht?

Rechtsanwältin Holzapfel: Wenn der Erblasser dem Pflichtteilsberechtigten das Fehlverhalten, das zum Entzug des Pflichtteils berechtigt hätte, verziehen hat, kann er mit diesem Fehlverhalten den Entzug des Pflichtteils nicht mehr begründen. Als Verzeihung versteht man ein Verhalten, mit dem der Erblasser anderen gegenüber signalisiert hat, dass er die Teilhabe des Betroffenen an seinem Nachlass nun nicht mehr als unzumutbar ansieht.

Ein vertraglicher Verzicht auf den Pflichtteil ist möglich

123recht.de: Kann man einen Pflichtteil auch ausschließen bzw. beschränken?

Rechtsanwältin Holzapfel: Es ist möglich, durch einen Vertrag zwischen dem zukünftigen Erblasser und einem Pflichtteilsberechtigten auf den Pflichtteil zu verzichten. Ein solcher Pflichtteilsverzicht kann ganz pauschal vereinbart werden, es kann aber auch ein beschränkter Pflichtteilsverzicht erklärt werden.

Nicht unüblich sind solche Vereinbarungen im Zusammenhang mit lebzeitigen Übertragungen, wenn beispielsweise Eltern ihren Kindern bereits zu Lebzeiten Immobilien zuwenden und dann im Gegenzug entweder vereinbart wird, dass diese Zuwendungen auf Erb- und Pflichtteilsansprüche anzurechnen sind oder aber auch, dass das jeweilige Kind im Gegenzug auf seinen Pflichtteilsanspruch vollständig verzichtet. Für sämtliche Vereinbarungen, mit denen auf Pflichtteilsansprüche ganz oder teilweise verzichtet wird, ist allerdings stets die notarielle Beurkundung erforderlich. Privatschriftliche Vereinbarungen sind unwirksam.

Aus diesem Grunde ist es zwingend erforderlich, bei Vereinbarungen über ein künftiges Erbe oder einen Pflichtteilsanspruch einen Notar zu beauftragen.

"Der Pflichtteil entspricht immer der Hälfte des gesetzlichen Erbteils"

123recht.de: Wie hoch ist der Pflichtteil?

Rechtsanwältin Holzapfel: Der Pflichtteil entspricht immer der Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Es wird also zunächst überprüft, wie hoch der gesetzliche Erbteil, bezogen auf die jeweilige Familienkonstellation gewesen wäre, wenn der Erblasser ohne Testament verstorben wäre. Die Hälfte dieser Quote entspricht dem Pflichtteil. Geregelt ist das in § 2303 BGB.

123recht.de: Was gilt, wenn das Erbe kleiner ausfällt als der eigentliche Pflichtteil, der dem Erbe zusteht?

In diesem Fall kann der Pflichtteilsberechtigte von den Miterben die Differenz zwischen seinem Anteil am Erbe und seinem rechnerischen Pflichtteilsanspruch verlangen. Dieser Anspruch ist als "Zusatzpflichtteil" in § 2305 BGB geregelt.

Schenkungen innerhalb der letzten zehn Jahre werden dem Pflichtteil zugerechnet

123recht.de: Kann sich der Pflichtteil durch Schenkungen reduzieren? Was ist eine Pflichtteilsergänzung?

Rechtsanwältin Holzapfel: Grundsätzlich ist der Erblasser bis zu seinem Tode berechtigt, mit seinem Vermögen nach Belieben zu verfahren. Er darf also auch sein Vermögen oder Teile davon verschenken. Der Nachlass besteht deshalb zunächst einmal nur aus den Vermögensgegenständen, die zum Zeitpunkt des Todes noch im Vermögen des Erblassers vorhanden waren.

Um zu verhindern, dass ein Erblasser, der einem nahen Angehörigen den Pflichtteilsanspruch nicht entziehen kann, über beeinträchtigende Schenkungen den Nachlass und damit auch den Pflichtteilsanspruch reduziert, gibt es hier eine Besonderheit, geregelt in § 2325 BGB.

Diese Vorschrift besagt, dass Schenkungen, die in den letzten zehn Jahren vor dem Erbfall vorgenommen worden sind, anteilig dem Nachlass wieder hinzugerechnet werden. Bei der Schenkung findet quasi eine „Abschmelzung" um 10 % pro Jahr statt. Schenkungen innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall werden so mit ihrem vollen Wert zum Nachlass addiert, Schenkungen, die früher erfolgt sind, werden mit jedem weiteren Jahr vor dem Erbfall mit jeweils 10 % weniger berücksichtigt. Schenkungen, die mehr als zehn Jahre vor dem Erbfall erfolgt sind, bleiben unberücksichtigt.

Von dieser Regel gibt es allerdings zwei Ausnahmen: Zum einen beginnt die Zehnjahresfrist bei Schenkungen an den Ehepartner oder den Lebenspartner bei einer eingetragenen Lebenspartnerschaft erst mit der Auflösung der Ehe bzw. der Lebenspartnerschaft. Wenn der Erblasser also seiner Ehefrau etwas geschenkt hat und die Ehe bis zum Tod fortbestanden hat, wird die Schenkung für die Pflichtteilsberechnung dem Nachlass auch dann hinzugerechnet, wenn die Schenkung mehr als zehn Jahre zurückliegt. Die zweite Ausnahme besteht darin, dass der Erblasser nach einer Schenkung keinen praktischen Zugriff mehr auf den verschenkten Gegenstand gehabt haben darf. Dies ist insbesondere wichtig bei Grundstücksübertragungen, bei denen sich der Erblasser den Nießbrauch an der gesamten Immobilie vorbehält. Auch in diesen Fällen beginnt die Frist nach der Rechtsprechung nicht zu laufen, und zwar unabhängig von der Frage, an wen die Schenkung erfolgt ist.

Der Pflichtteilsergänzungsanspruch ist ein Zahlungsanspruch, der gegenüber dem oder den Erben geltend gemacht werden kann. In Einzelfällen kann auch ein Herausgabeanspruch gegenüber dem Beschenkten aus § 2329 BGB entstehen, wenn das Erbe nicht ausreicht, um den Zahlungsanspruch zu befriedigen.

Ansprüche verjähren maximal in 30 Jahren

123recht.de: Gibt es Verjährungsfristen, die bezüglich des Pflichtteils beachtet werden müssen?

Rechtsanwältin Holzapfel: Der Pflichtteilsanspruch unterliegt der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB). Dasselbe gilt auch für die Ergänzungsansprüche. Die Verjährung tritt jeweils zum Schluss des Kalenderjahres ein. Allerdings kann sich diese Frist auf bis zu maximal 30 Jahren verlängern, wenn der Pflichtteilsberechtigte keine Kenntnis von der Entstehung seines Anspruchs hatte. Auch eine Verlängerung der Verjährungsfrist durch eine Vereinbarung zwischen dem Erben und dem Pflichtteilsberechtigten ist möglich.

123recht.de: Vielen Dank für die wertvollen Informationen.

Leserkommentare
von ATH am 26.02.2021 13:30:30# 1
Sehr geehrte Frau Holzapfel,
ich hätte eine allg. Nachfrage zu Ihrem oben sehr interssanten Artikel.

Annahme: Der Erblasser hat keine Kinder, folglich auch keine Enkel etc.. Die Eltern sind bereits beide verstorben. Einziger noch lebender Verwandter ist eine ältere Schwester, die wiederum verheiratet ist und auch Kinder hat, die wiederum Kinder haben. Der Erblasser ist zudem verheiratet. Frage: Hat die Schwester, oder einer ihrer Nachkommen, des Erblassers Ansprüche aus dem Pflichtteil? Wenn nein, heißt das, dass der Ehepartner "Alleinerbe" wird (sofern keine anderslautende Erbverfügung vorliegt)?

Diese Frage hatten wir neulich in einer Art "freien Gesprächsrunde" aus dem Umfeld eines Bekannten zur Diskussion. Leider waren die Auffassungen der Beteiligten nicht eindeutig. Eine Antwort aus fachkundigem Munde würde mich daher nun schon interessieren ;-) ... vielen Dank!

Gruß