Die Anwesenheitsprämie - attraktive Sonderzahlung oder falscher finanzieller Anreiz?

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Mitarbeiter mit geringen Fehltagen oder Krankheitszeiten können vom Arbeitgeber besonders honoriert werden

Wer weniger krank und damit häufig im Büro ist, bekommt eine Prämie ausbezahlt: Die Anwesenheitsprämie soll Fehlzeiten im Betrieb reduzieren. Arbeitgeber können Arbeitnehmern die Prämie zusätzlich zum vereinbarten Arbeitslohn zusagen und damit die Grundsätze von Lohn ohne Arbeit zugunsten des Arbeitgebers ändern. Rechtsanwalt Frank Labisch, Fachanwalt für Arbeitsrecht, klärt im Interview mit 123recht.de über die Möglichkeiten einer Einführung, Ausgestaltung und Probleme der Anwesenheitsprämie auf.

Fehltage sollen möglichst gering gehalten werden

123recht.de: Herr Labisch, was ist die so genannte Anwesenheitsprämie?

Rechtsanwalt Labisch: Unter der Anwesenheitsprämie werden freiwillige, in einem bestimmten Rhythmus wiederkehrende Sonderzahlungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer verstanden. Hierdurch kann der Arbeitgeber die Leistung und das Engagement seiner Mitarbeiter honorieren und insbesondere diejenigen Mitarbeiter mit geringen Fehl- bzw. Krankheitszeiten besonders berücksichtigen.

Letztlich ist der Zweck einer solchen Prämie also, dem Arbeitnehmer den Anreiz zu geben, die Zahl seiner berechtigten und unberechtigten Fehltage im Bezugszeitraum möglichst gering zu halten.

123recht.de: Wie entsteht ein Anspruch auf die Anwesenheitsprämie?

Rechtsanwalt Labisch: In der Regel werden Anwesenheitsprämien durch Arbeitsvertrag, in Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträgen festgelegt. Möglich ist auch, dass sich ein Anspruch aus einer sog. Betrieblichen Übung, aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz oder einer Gesamtzusage ergibt.

Inhaltlich kann der Arbeitgeber die Prämie im Rahmen des laufenden Entgelts, also als Bestandteil der Vergütung oder als Sonderzuwendung gewähren. Sonderzuwendungen sind in diesem Zusammenhang alle Leistungen, die der Arbeitgeber aus bestimmtem Anlass, zu bestimmten Terminen oder nur einmal Jahr zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbringt.

Bestandteil des Arbeitslohns oder Sonderzuwendungen mit Mischcharakter

123recht.de: Welche Probleme können in diesem Zusammenhang entstehen?

Rechtsanwalt Labisch: Grundsätzlich kann für den Arbeitgeber die Möglichkeit bestehen, die Anwesenheitsprämien zu kürzen. Dies hängt jedoch entscheidend davon ab, ob er die Prämie als Sonderzuwendung oder als laufenden Bezug ausgestaltet hat.

In diesem Zusammenhang spielt die Vorschrift § 4a Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) eine wichtige Rolle.

Deklariert der Arbeitgeber die Prämie als Sonderzuweisung mit reinem Entgeltcharakter - also als Bestandteil des Arbeitslohns -, kann diese wegen krankheitsbedingten Fehlzeiten nicht gekürzt werden. Dies hängt mit dem Sinn und Zweck des EFZG zusammen, da hiernach das laufende Entgelt gesichert werden soll. Demgegenüber kann eine Kürzung jedoch dann erfolgen, wenn z.B. Ruhezeiten wegen Elternzeit, Wehr- oder Zivildienst in Rede stehen. Sofern die Kürzung Urlaubszeiten betrifft, ist zu unterscheiden: Ist der gesetzlich zustehende Urlaub Gegenstand, ist eine Kürzung wegen § 11 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) ausgeschlossen. Für darüber hinaus im Arbeitsvertrag gewährte Urlaubstage ist eine Kürzung hingegen zulässig.

Des Weiteren gibt es Sonderzuwendungen mit Mischcharakter, also für Betriebstreue und die Arbeitsleistung. Eine Kürzung der Prämie wegen krankheitsbedingten Fehlzeiten ist in diesen Fällen nur gestattet, wenn dies ausdrücklich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart wurde.Schließlich kann eine Anwesenheitsprämie auch allein als laufender Bezug ausgestaltet sein. Ist dies der Fall, ist eine Kürzung bei krankheitsbedingten Fehlzeiten gänzlich ausgeschlossen. Als laufender Bezug ist die Prämie in diesem Fall unmittelbare Gegenleistung für die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers. Daher ist sie durch ihren Entgeltcharakter vom gesetzlichen Fortzahlungsanspruch nach § 3 EFZG umfasst. Für andere als krankheitsbedingte Fehl- und Ruhezeiten sind Kürzungen der laufenden Bezüge im Rahmen der Anwesenheitsprämie auch hier wieder zulässig. Dieses sind etwa Zeiten des Wehr- oder Zivildienstes. Hinsichtlich der urlaubsbedingten Fehlzeiten ergeben sich keine Unterschiede zu den Sonderzahlungen mit reinem Entgeltcharakter.

Krankheitsbedingte Fehltage dürfen nicht mit gesetzlich zustehenden Urlaubstagen eingetauscht werden

123recht.de: In einigen Betrieben können Krankheitstage mit Urlaubstagen eingetauscht werden, um die Prämie zu erhalten. Ist es rechtlich zulässig, seinen Urlaub für Krankheitstage wegzustreichen? Urlaub ist doch wichtig!

Rechtsanwalt Labisch: Unbestritten ist Urlaub wichtig! Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, krankheitsbedingte Fehltage mit noch ausstehenden Urlaubstagen einzutauschen. Dies gilt zumindest unbedingt für die dem Arbeitnehmer zustehenden gesetzlichen Urlaubstage. Bereits der Zweck des Urlaubs lässt eine solche Vorgehensweise nicht zu. Der Urlaub soll ausschließlich der Erholung und Entspannung des Arbeitnehmers dienen, was bereits § 1 BUrlG verdeutlicht, indem vom Begriff des „Erholungsurlaubs" gesprochen wird. Hinzu kommt § 9 BUrlG, wonach die Erkrankung eines Arbeitnehmers auf die Urlaubszeit nicht angerechnet wird. Was also den Tausch von gesetzlichen Urlaubstagen angeht, könnten Arbeitnehmer gegen diese Praxis vorgehen.

Bei überobligatorisch gewährtem Urlaub gilt dies nicht. Der nicht gesetzlich vorgeschriebene Urlaub wird letztlich individuell von den Vertragsparteien vereinbart. Aus diesem Grund können die Parteien selbstverständlich hierüber auch disponieren. Solange die Vereinbarungen nicht den gesetzlich zustehenden Erholungsurlaub tangieren, ist dies rechtlich nicht zu beanstanden.

"Kranke Arbeitnehmer mit ansteckenden Infektionskrankheiten gehören ins Bett"

123recht.de: Was ist bei der Arbeit mit Kranken oder alten Menschen? Das Infektionsrisiko ist doch sehr hoch, wenn Kranke zu Arbeit gehen, nur um die Prämie zu bekommen!

Rechtsanwalt Labisch: Der von Ihnen genannte Fall stellt sicherlich ein klassisches Problem der Anwesenheitsprämie dar. Aus der Möglichkeit des Arbeitgebers, einen finanziellen Anreiz zu schaffen, darf nicht geschlossen werden, dass der Arbeitnehmer zur Gefährdung seiner Mitmenschen angehalten wird. Dies ist nicht der Zweck der Anwesenheitsprämie.

Kranke Arbeitnehmer mit ansteckenden Infektionskrankheiten gehören ins Bett und nicht an den Arbeitsplatz. Hier ist an die Eigenverantwortlichkeit der Arbeitnehmer, aber auch an die Verantwortung der Arbeitgeber zu appellieren, eine Anwesenheitsprämie entsprechend zu gestalten.

123recht.de: Was ist mit der Gleichbehandlung? Wenn jemand wirklich krank ist und zuhause oder im Krankenhaus bleiben muss, hat er keine Chance auf diese Prämie. Ist das wirklich gerecht, wenn man ansonsten ein fleißiger Mitarbeiter ist?

Rechtsanwalt Labisch: Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Anwesenheitsprämie nicht dazu dienen soll, trotz Krankheit arbeiten zu gehen. Insofern kann es in dem von Ihnen beschriebenen Beispiel zu keiner Ungleichbehandlung kommen, da es rechtlich betrachtet nur arbeitsfähig oder –unfähig gibt. Dies ist durch den Arzt festzustellen und obliegt nicht der Beurteilung des Rechtsanwalts.

Unabhängig davon spielt die Gleichbehandlung im Arbeitsrecht eine überaus wichtige und in vielerlei Hinsicht relevante Rolle.In Zusammenhang mit der Anwesenheitsprämie kommt insbesondere das sog. Maßregelungsverbot nach § 612a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Betracht.

Grundsätzlich kann die Vorenthaltung einer freiwilligen Leistung, die anderen Arbeitnehmern gewährt wird und die ein ihnen zustehendes Recht nicht ausgeübt haben, als Verstoß gegen § 612a anzusehen sein. Hiervon erfasst sind mittlerweile jedoch hauptsächlich die Fälle der Kürzung von Prämien wegen Teilnahme an einem Streik. Nach der Rechtsprechung sind derartige Kürzungen jedoch im Regelfall möglich, da sich die Ungleichbehandlung zu den anwesenden Arbeitnehmern allein in dem Fehlen der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung rechtfertigt.

"Der Gedanke der Anwesenheitsprämie zur Motivierung ist durchaus nachvollziehbar"

123recht.de: Was muss ein Arbeitgeber tun, der eine Anwesenheitsprämie einführen möchte?

Rechtsanwalt Labisch: Wie bereits erwähnt muss überprüft werden, ob die Prämie in dem entsprechenden Arbeitsvertrag oder gegebenenfalls in einer Betriebsvereinbarung geregelt werden soll. Möglicherweise enthält auch ein bereits bestehender und geltender Tarifvertrag eine solche Regelung.

Wichtig ist, dass in jedem Fall bei Kürzungen nur auf die künftigen Fehltage abgestellt werden sollte. Denn eine Anwesenheitsprämie, deren Zweck es ist, die Arbeitnehmer zu motivieren, die Zahl der Fehltage möglichst gering zu halten, kann ihren Zweck nur erreichen, wenn sie auf künftige Fehltage abstellt. Eine Regelung, die auf Fehltage abstellt, die vor dem Bekanntwerden der Regelung liegen, kann ihren Zweck nicht erreichen.

Um Fehlern und Risiken weitgehend aus dem Weg zu gehen, sollte vor der Formulierung etwaiger Regelungen jedoch anwaltlicher Sachverstand zu Rate gezogen werden, da die Fallstricke bei den Formulierungen äußerst vielfältig sein können.

123recht.de: Was ist ihr Fazit zur Anwesenheitsprämie? Sehen Sie mehr Vor- oder Nachteile?

Rechtsanwalt Labisch: Anwesenheitsprämien befinden sich in einem sozialpolitischen Spannungsfeld und sind durchaus kritisch zu sehen. Eine eindeutige Bewertung zugunsten der Vor- oder Nachteile ist meiner Ansicht nach jedoch kaum möglich.

Auf der einen Seite steht ein sicherlich wirtschaftlich berechtigtes Interesse des Arbeitgebers, den Missbrauch der Entgeltfortzahlung trotz Abwesenheit zu verhindern. Andererseits birgt eine zu hohe Anwesenheitsprämie auch die Gefahr, dass tatsächlich arbeitsunfähige Arbeitnehmer trotzdem erscheinen, um sich die Prämie zu sichern. Der Gedanke der Anwesenheitsprämie ist insgesamt aber durchaus nachvollziehbar. In einer wirtschaftlich schwierigen Zeit für Unternehmen muss es dem Arbeitgeber möglich sein, seine Arbeitnehmer motivieren zu können, sei es auch finanzieller Art.

Bei aller rationalen Betrachtungsweise darf jedoch der Arbeitnehmer als Mensch nicht außer Acht gelassen werden. Ist es zwar letztlich Aufgabe eines jeden Einzelnen, bei tatsächlicher Arbeitsunfähigkeit nicht zur Arbeit zu kommen, muss diesbezüglich doch jeder den moralischen Anspruch an sich selbst haben, finanzielle Interessen nicht über das Wohl seiner Mitmenschen zu stellen.

123recht.de: Vielen Dank Herr Labisch!

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