Die neue Musterfeststellungsklage - Was müssen Verbraucher beachten?

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Können sich Verbraucher zukünftig besser gegen Großkonzerne wehren?

Zum 1. November 2018 tritt das Gesetz zu Musterfeststellungsklagen in Kraft. Ziel ist die Stärkung von Verbraucherrechten, besonders vor dem Hintergrund des Dieselskandals. Ist das gelungen oder ist das Gesetz eher ein stumpfes Schwert? Wer kann die neue Klage nutzen? Rechtsanwalt Stefan Pieperjohanns erläutert im Interview mit 123recht.de, was Sie als Verbraucher zur Musterfeststellungsklage und den Voraussetzungen wissen müssen.

123recht.de: Herr Pieperjohanns, was sind die Hintergründe für die Einführung von Musterfeststellungsklagen?

Stefan Pieperjohanns
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Rechtsanwalt
Fachanwalt für Insolvenzrecht
Trostbrücke 1
20457 Hamburg
Tel: 040/80 80 65 200
Web: http://www.insolvenz.hamburg
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Arbeitsrecht, Gesellschaftsrecht, Vertragsrecht, Zivilrecht, Grundstücksrecht, Erbrecht, Kaufrecht

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Das Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage befindet sich schon seit einiger Zeit in der politischen Diskussion. Die Bundesregierung hat am 09.05.2018 einen Entwurf vorgelegt, der jetzt von Gremien und Beteiligten kontrovers diskutiert wird. Das Gesetz soll eine Lücke im Verbraucherschutz schließen, die im Rahmen des VW-Skandals klar zu Tage getreten ist. Das deutsche Rechtssystem ist auf die Streitklärung zwischen den jeweiligen Parteien eines Rechtsstreits ausgelegt. Ein Urteil hat nur zwischen den Parteien, z.B. zwischen Kläger bzw. Autokäufer und Beklagtem bzw. Hersteller eine Wirkung. Das macht insoweit Sinn, da jeder Rechtsstreit individuelle Facetten hat. Jeder Vertrag und jede Vereinbarung ist zwischen den beiden Streitparteien ausgehandelt.

123recht.de: Andererseites gibt es aber auch durchaus gleiche Hintergründe bei vielen Betroffenen.

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Genau. In der heute für Produkte typischen Massenherstellung ist ein immer gleicher Sachverhalt häufig. Warum also nicht die Anzahl der zu führenden Prozesse für die Beteiligten verringern und vor allem für den Verbraucher das so genannte „rationale Desinteresse“ entschärfen? Das rationale Desinteresse beschreibt eine Geisteshaltung. Wer nicht viel aus einem Prozess zu gewinnen hat und sich einem Gegner gegenübersieht, der mit wesentlich größeren finanziellen Mitteln ausgestattet ist, der überlegt dreimal, bevor er klagt. Meist tut er es dann nicht, obwohl er womöglich Recht bekommen hätte.

Dem soll die Musterfeststellungklage abhelfen.

Die Musterfeststellungsklage dient allein der Feststellung von Tatsachen

123recht.de: Was ist unter Musterfeststellungsklagen zu verstehen?

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Eine Musterfeststellungsklage trägt ihre Aufgabe schon im Namen. Sie soll für eine Vielzahl von gleichen Sachverhalten, also nach selbem Muster, klären, ob ein rechtlicher oder tatsächlicher Sachverhalt besteht - oder eben nicht besteht.

Übertragen auf den immer noch sehr präsenten Fall des VW-Dieselskandals, der bei weitem nicht nur Volkswagen sondern auch andere Konzerne wie Audi, BMW und andere erfasst hat, wäre die Aufgabe der Musterfeststellungsklage die Feststellung, ob ein Hersteller tatsächlich Motoren eines bestimmten Typs frisiert hat.

Kein Ziel und keine Funktion der Klage ist das Urteil über die Schadensersatzpflicht oder gar die Höhe des Schadens.

Diese reine Feststellungsfunktion ist auch der größte Kritikpunkt am Entwurf für das Gesetz. Was bringt es einem Verbraucher, wenn er festgestellt sieht, dass ein Fehlverhalten vorliegt? Er muss dann in einem neuen individuellen Prozess dieses Fehlverhalten wieder gegen seinen Gegner in einen Schadensersatzanspruch ummünzen. Es geht in jedem Fall also doch wieder in die Einzelklage. Denn der Schaden in seiner Höhe und auch in seiner Verursachung mag gar nicht auf dem festgestellten Sachverhalt beruhen.

Die Musterfeststellungsklage sieht keine Regeln zum Schadensersatz vor!

123recht.de: Sammelklagen wie in den USA scheinen damit also nicht möglich?

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Wenn man Musterfeststellungklage hört, dann klingt da gleich das amerikanische Sammelklagensystem an. Was auch kein Wunder ist, denn der Entwurf sieht vor, dass sich einer Musterklage eine Vielzahl von Verbrauchern anschließen können und sollen. Durch die Erhebung der Musterklage sollen daneben individuelle Klagen der beteiligten Verbraucher aus demselben Sachverhalt ausgeschlossen werden. Das ist schon einmal sehr ähnlich zum amerikanischen Rechtssystem.

Abweichend vom Sammelklagensystem der USA ist aber schon die Beteiligung an einer Musterfeststellungsklage. Wer in Amerika unter den Sachverhalt der Sammelklage fällt und nicht aktiv sagt „Ich mache nicht mit“ (opt out), der wird vom Ergebnis der Klage erfasst. Im Gesetzentwurf für die Musterfeststellungsklage ist es umgekehrt. Wer nicht aktiv sagt „Ich mache mit“ (opt in), nimmt nicht an der Feststellungswirkung teil.

Gänzlich unterschiedlich sind aber tatsächlich Ziel und Folgen der Musterfeststellungsklage gegenüber der Sammelklage. Während die amerikanische Sammelklage zum einen den individuellen Schadensersatz pauschalieren soll - jeder soll einen gleichen Anteil bekommen - sieht die Musterfeststellungsklage gar keine Regeln zum Schadensersatz vor. Das wird wiederum dem individuellen Kläger in einem gesonderten Prozess überlassen. Ebenso kennt das deutsche Rechtssystem keinen Strafschadensersatz. Auch das Musterfeststellungsklagengesetz führt diesen nicht ein. Wie gesagt, es schweigt zum Schadensersatz und beschränkt sich auf die Feststellung von (Rechts-)Sachverhalten. Die so pressewirksamen riesigen Schadensersatzsummen, die es sogar zum Thema für Hollywood schaffen, die wird es mit diesem Gesetz nicht geben.

Nicht zuletzt ist im amerikanischen Recht die Tätigkeit der Anwälte in Sammelklagen auf Erfolgsbasis vergütet. Wer eine millionenschwere Sammelklage einreicht und durchsetzt, bekommt einen massiven Anteil vom Gewinn. Oder eben nichts. Das führt zu einer regelrechten Sammelklagenindustrie, die sich darauf spezialisiert hat, für Sammelklagen taugliche Sachverhalte zu ermitteln und möglichst viele Betroffene zur Teilnahme zu überreden, um den Schadensersatz und damit im Erfolgsfall das Honorar hochzutreiben. Das Vergütungssystem für Rechtsanwälte in Deutschland hingegen kennt die Erfolgsvereinbarung nur in absoluten Ausnahmefällen.

“Klageberechtigt sind nur Verbraucherverbände“

123recht.de: Was sind die Voraussetzungen für eine Klage? Wer darf klagen?

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Nach dem Entwurf zum Gesetz soll eine Musterfeststellungsklage auch nicht jeder Verbraucher starten können. Klageberechtigt sind nur Verbraucherverbände, die auch schon nach dem Gesetz über Unterlassungsklagen zum Verbraucherschutz klagefähig sind. Sie müssen mindestens 350 Mitglieder haben oder zehn Unterverbände und für mindestens vier Jahre vor Klageerhebung bereits klagefähig gewesen sein. Ebenso dürfen die Verbände nicht in Gewinnerzielungsabsicht handeln und maximal 5% Ihrer Einnahmen von der Industrie erhalten.

Diese sehr restriktiven Voraussetzungen sind scharf kritisiert worden, weil sie zum Beispiel die Deutsche Umwelthilfe, die sich im VW-Skandal hervorgetan hat, auf Grund ihrer geringen Mitgliederzahl aus dem System rauswerfen.

Daneben muss der Kläger glaubhaft machen, dass mindestens zehn Verbraucher betroffen sind und es müssen innerhalb von zwei Monaten nach Veröffentlichung der Klage mindestens fünfzig Verbraucher ihre Teilnahme an der Klage durch Eintragung in eine Liste angemeldet haben.

Verbraucher müssen sich innerhalb von zwei Monaten einer Klage anschließen

123recht.de: Wie ist der Ablauf einer Musterfeststellungsklage?

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Die Klage wird von einem Verband erhoben. Allein diese Verbände können eine zulässige Klage erheben. Versucht ein einzelner Verbraucher die Klage zu Gericht zu bringen, wird er abgewiesen, egal ob er fünfzig, hundert oder einhunderttausend Verbraucher hinter sich hat.

Nach Klageeinreichung wird die Klage öffentlich bekanntgegeben und es wird den betroffenen Verbrauchern zwei Monate Zeit gegeben, sich zu beteiligen. Erst wenn innerhalb dieser zwei Monate fünfzig oder mehr Verbraucher mitmachen, wird die Klage überhaupt zulässig.

Problematisch ist auch die generelle Zuweisung der Klage zum Landgericht. Egal, ob es um geringe Beträge geht, es ist immer das Landgericht zuständig, obwohl dieses sonst erst ab einem Streitwert von über 5.000 € zuständig ist. Das hat auch zur Folge, dass in jedem Fall ein Rechtsanwalt auftreten muss, denn vor dem Landgericht herrscht der so genannte Anwaltszwang. Das Gericht muss nur solche Sachen hören und berücksichtigen, die ein Anwalt erklärt hat.

Im Rahmen des Prozesses prüft das Gericht dann nur den Sachverhalt auf die Feststellbarkeit des vom Kläger vorgetragenen Rechts bzw. der tatsächlichen Gegebenheiten. Nicht mehr.

Das Klageverfahren endet entweder mit einem Vergleich, der vom Gericht zu bestätigen ist und gültig wird, wenn nicht mehr als 30% der beteiligten Verbraucher „aussteigen“, oder durch Feststellungsurteil.

Was nicht geschieht ist die Verurteilung zur Zahlung. Man kann am Ende nicht den Gerichtsvollzieher losschicken und den Gegner zur Kasse bitten.

123recht.de: Wer haftet für schlechte Prozessführung?

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Diese Frage berührt der Gesetzentwurf nicht. Es dürften damit die üblichen Regeln gelten. Der Rechtsanwalt haftet seinem Mandanten, der in diesem Fall nicht der einzelne Verbraucher, sondern der klagende Verband sein dürfte. Der Verband wiederum haftet ebenfalls nicht aus dem Gesetz gegenüber dem sich freiwillig anschließenden Verbraucher. Allenfalls aus dem Gedanken der Haftung für die Übernahme eines Auftrags zur Klage oder aus der freiwilligen Übernahme der Betreuung fremder Vermögensinteressen ergeben sich mögliche Ansprüche.

Diese Frage ist ein weites Feld und dürfte die Verbände nicht gerade mit großer Dynamik zu eher schwachen oder unklaren Feststellungsklagen motivieren.

Das Kostenrisiko liegt bei den klagenden Verbänden

123recht.de: Wer trägt die Kosten für die Klage?

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Die Kosten einer Klage und der Vertretung durch einen Anwalt vor dem Landgericht trägt derjenige, der sie einreicht. Das ändert sich nicht mit dem Musterfeststellungsklagengesetz. Die Verbände tragen also das Kostenrisiko. Trotz der Begrenzung der Streitwerte auf 250.000 € kann das für einen kleineren Verband mit einer kleinen „Kriegskasse“ schon ein Hinderungsgrund sein.

Der Verbraucher wiederum trägt die Kosten seines eigenen Anwalts, wenn er sich über seinen Anwalt zur Liste anmeldet. Es dürfte streitig werden, wie die beiden Stufen des Verfahrens, also die Beteiligung an der Verbandsklage und dann die folgende eigene Schadensersatzklage untereinander auf das Honorar des Anwalts wirken.

Für Betroffene des Dieselskandals wird es eng

123recht.de: Was ist mit deutschen VW-Kunden, profitieren diese noch von dem neuen Gesetz?

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Ja und nein. Zum einen führt die Erhebung einer Musterfeststellungklage zu einer Unterbrechung der Verjährung. Da die meisten Betroffenen seit Beginn des Skandals um VW-Motoren von der Abgasmanipulation wissen, gehen viele Rechtsanwälte von einer Verjährung etwaiger Ansprüche am 31.12.2018 aus. Wer danach Klage erhebt, der mag vielleicht im Grunde Recht haben, er verliert den Prozess aber allein deshalb, weil der Gegner sich wegen der jahrelangen Untätigkeit des Klägers auf Verjährung berufen kann. Eine Musterfeststellungsklage würde also für die dort beteiligten Verbraucher eine Atempause bedeuten. Sie könnten auch nach dem 31.12.2018 noch gegen VW vorgehen.

Zum anderen soll das geplante Gesetz erst zum 01.11.2018 in Kraft treten. Und das ist höflich gesagt ein ambitionierter Zeitplan. Kommt es so, dann hätte ein Verband am 01.11.2018 die Möglichkeit, Klage zu erheben. Allerdings müsste er innerhalb der folgenden zwei Monate mindestens 50 betroffene Verbraucher aktivieren. Die Rechnung zeigt schon, dass das Ausreizen der Zwei-Monats-Frist nicht funktioniert, weil mit Ablauf des 31.12.2018 die zwei Monate um sind, aber auch die Verjährung eintritt.

Sich auf diesen Zeitplan zu verlassen, um dann am Ende mit leeren Händen da zu stehen, halte ich aus anwaltlicher Sicht für grob fahrlässig.

"Was habe ich davon, wenn ich doch nochmal klagen muss?"

123recht.de: Kritiker sprechen von einer Mogelpackung, was denken Sie?

Rechtsanwalt Pieperjohanns: Ich halte das Gesetz in seiner jetzigen Entwurfsform nicht für besonders schlagkräftig. Die Hürden für die Zulässigkeit der Klage sind hoch. Es kann eben nicht jeder Betroffene eine Kampagne starten, sondern nur Verbände. Daneben sind die mit der Klage zu erzielenden Ergebnisse allenfalls eine Grundlage für weitere Klagen. Der vom Gesetzgeber angestrebte Vereinfachungs- und Einsparungseffekt durch weniger Individualklagen dürfte nicht eintreten. Auch die Intention, das rationale Desinteresse der Verbraucher zu beseitigen und so die Gegner zu mehr Sorgfalt und Gesetzestreue zu erziehen, kommt meiner Ansicht nach nicht zum Tragen. Im Gegenteil muss der Verbraucher doch erst einmal wahrnehmen, dass ein Verband klagen möchte. Dann muss er sich einem Dritten in die Hände geben, der eventuell einen Sachverhalt vorträgt, der nicht perfekt auf den Einzelfall passt und so eine Feststellung verliert, die der Verbraucher dann gegen sich gelten lassen muss, obwohl er in einem eigenen Prozess möglicherweise gewonnen hätte.

Jedenfalls muss der Verbraucher selbst noch seinen Schadensersatz durchsetzen. Das dürfte am Ende die Musterfeststellungsklage zum Scheitern verurteilen. Was habe ich davon, wenn ich doch nochmal klagen muss?

123recht.de: Herr Pieperjohanns, wir bedanken uns ganz herzlich für das informative Gespräch.

Rechtsanwalt Stefan Pieperjohanns
Fachanwalt für Insolvenzrecht
Trostbrücke 1
20457 Hamburg
Tel. 040/80 80 65 200

Internet: www.insolvenz.hamburg
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