Direkte Demokratie durch Volksentscheide

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"Wenn sich die Bevölkerung mehrheitlich positioniert hat, ist das keine beliebige Meinungsumfrage."

Direkte Demokratie gibt Bürgern ein Gefühl, sich an der Gestaltung ihres Landes selbst beteiligen zu können. Mit Volksentscheiden, Bürgerentscheiden und Bürgerinitiativen soll Bürgern ein Mitwirken ermöglicht werden. Welche Voraussetzungen müssen dafür vorliegen und wie funktioniert ein Volksentscheid in der Praxis? Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht Robert Hotstegs erklärt im Interview mit 123recht.de die Abläufe.

123recht.de: Herr Hotstegs, was sind Volksentscheide?

Rechtsanwalt Hotstegs: Unter Volksentscheiden versteht man üblicherweise Entscheidungen, die die Bevölkerung anstelle des Parlaments trifft. Das betrifft also vor allem die Ebene der Bundesländer. In den Städten und Gemeinden spricht man üblicherweise von Bürgerentscheiden. Wenn Wahlen Personenentscheidungen sind, sind Volksentscheide und Bürgerentscheide Sachentscheidungen.

Volksentscheide gibt es in Deutschland nur auf Landesebene

123recht.de: Es wird oft mit Verweis auf die Schweiz gesagt, in Deutschland gäbe es keine Volksentscheide, also auch keine direkte Demokratie. Ist das korrekt?

Rechtsanwalt Hotstegs: Nicht in dieser Pauschalität. Aber wir haben keine Volksentscheide auf Bundesebene, das stimmt. Dort sind Bürger nur gefragt, wenn die Grenzen der Bundesländer verändert werden sollen; also in der Praxis gar nicht. Auf Landesebene gibt es direkte Demokratie durch Volksentscheide, Volksbegehren oder Volksinitiativen. Hier sind die Instrumente aber von Land zu Land unterschiedlich ausgestaltet und auch die Bindungswirkung ist häufig umstritten. Das kann man aktuell am Berliner Volksentscheid zum Flughafen Tegel gut beobachten. Die Landesregierung fühlt sich an den Bürgerwillen nicht gebunden.

123recht.de: Was ist der Unterschied zwischen einem Volksentscheid, einer Volksabstimmung und einem Referendum oder sind das alles Synonyme?

Rechtsanwalt Hotstegs: Ganz häufig sind die Begriffe Volksentscheid und Volksabstimmung gleichzusetzen. So sprechen die meisten Bundesländer etwa von einem Volksentscheid, wenn die Bevölkerung zum Beispiel ein Gesetz anstelle des Landtags beschließt. Die Landesverfassung von Baden-Württemberg nennt den gleichen Akt Volksabstimmung.

Es gibt aber auch Modelle, die mit Volksabstimmung das gesamte Verfahren bezeichnen. Von der ersten Initiative bis zum endgültigen Entscheid.

Als Referendum bezeichnet man in der Regel, wenn der Abstimmung ein Gesetz oder ein Gesetzesentwurf des Parlaments zugrunde liegt. Das Parlament hat also entschieden, das Volk muss aber mitgehen. Ein solches Referendum ist etwa bei Verfassungsänderungen in Hessen vorgeschrieben.

Die Initiative eines Volksentscheids geht von den Bürgern aus

123recht.de: Wie kann man einen Volksentscheid erreichen, wer muss die Initiative dazu übernehmen?

Rechtsanwalt Hotstegs: Die Regeln unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Aber man kann grundsätzlich sagen, dass eine Gruppe von Bürgern den ersten Schritt tun und einen Vorschlag für eine Abstimmung erarbeiten kann. Soll also etwa ein Gesetz erlassen werden, müssen die Bürger selbst einen entsprechenden Gesetzestext erarbeiten, diesen Entwurf anzeigen und ggf. auch schon vorab prüfen lassen. Die Unterschriftensammlung für die erste Stufe, das so genannte Volksbegehren, läuft unterschiedlich ab. Hier gibt es verschiedene Varianten, etwa freie Unterschriftensammlungen auf der Straße ebenso wie Amtseintragungen allein in den Rathäusern. Gelingt es diese Hürde zu nehmen, organisiert der Staat am Ende den Volksentscheid. So ist auch sichergestellt, dass alle Abstimmungsberechtigten gleichermaßen informiert und eingeladen werden - ähnlich wie bei einer Wahl.

123recht.de: Aber eben nur in den Ländern. Auf Bundesebene gibt es nichts Vergleichbares?

Rechtsanwalt Hotstegs: Tatsächlich fehlen alle notwendigen Regelungen für Volksentscheide auf Bundesebene. Es wäre aus meiner Sicht endlich an der Zeit, auch dieses Instrument in die Gesetzgebungsverfahren einzubinden. Es geht ja schließlich nicht darum, dass zukünftig alle Gesetze vom Volk entschieden werden sollen. Aber warum soll das Volk nicht eigene Impulse für Gesetzesvorhaben geben oder ungewünschte Gesetze verhindern können? Erfahrungen aus anderen Ländern finde ich hierzu grundsätzlich sehr ermutigend. Auch die Verfahren in den Städten, Gemeinden und Bundesländern zeigen doch, dass es solche Interessen und Bedürfnisse gibt. Die bestehende Lücke auf Bundesebene sollte daher endlich geschlossen werden.

"Das gesamte Volk ist zur Mitwirkung aufgerufen"

123recht.de: Wer darf über etwas per Volksentscheid abstimmen?

Rechtsanwalt Hotstegs: Das Abstimmungsrecht ist in der Regel an das Wahlrecht gekoppelt. Wer also zur Landtagswahl stimmberechtigt ist, ist es dann auch in einem Volksbegehren oder Volksentscheid. Nicht erforderlich ist ein regionaler oder inhaltlicher Bezug. So können natürlich Raucher über den Nichtraucherschutz abstimmen, Senioren über die Jugendförderung, aber eben auch scheinbar unbeteiligte Bürger über ein Infrastrukturprojekt am anderen Ende des Bundeslandes. Hier gilt wie bei einer Wahl: Das gesamte Volk ist zur Mitwirkung aufgerufen.

123recht.de: Gibt es Grenzen des Volksentscheids oder ist st prinzipiell alles möglich?

Rechtsanwalt Hotstegs: Es gibt Grenzen unterschiedlicher Intensität. Vor allem gelten auch bei Volksentscheiden die Ewigkeitsgarantien des Grundgesetzes und die dortigen Vorgaben für Landesverfassungen und die Länder. Die Abschaffung der Verfassung oder der Demokratie sind also im Ergebnis undenkbar und unzulässig. Der Landesgesetzgeber kann darüber hinaus auch weitere Einschränkungen vornehmen, also etwa bestimmte Themengebiete vollständig oder teilweise vom Volksentscheid ausschließen. Das ist dann eine politische Frage, ob dies sinnvoll ist.

"Hier besteht Nachbesserungsbedarf"

123recht.de: Wie ist der Ablauf eines Volksentscheids?

Rechtsanwalt Hotstegs: Die Parallelen zu einer Wahl sind unübersehbar. Die eigentliche Abstimmung kann als Brief- oder Präsenzabstimmung durchgeführt werden. Wer also bei Wahlen gerne sonntags ins Wahllokahl geht und dort sein Wahlrecht ausübt, der muss sich nur an anderen Vokabeln orientieren und so kann er im Rahmen eines Volksentscheides sein Stimmrecht im Abstimmungslokal ausüben.

Interessanter sind die vor der eigentlichen Abstimmung liegenden Wochen und Monate. Hier gibt es nur in Teilen ausdrückliche Regeln. Wer darf also für oder gegen einen Volksentscheid plakatieren? Gibt es Sendeminuten im Radio oder Fernsehen? Derartige Fragen sind in vielen Bundesländern nicht eindeutig geregelt und die Regelungen zu den Wahlen sind schon begrifflich oft nicht zu übertragen, jedenfalls aber nicht eindeutig anwendbar. Hier besteht Nachbesserungsbedarf.

123recht.de: Wann ist ein Volksentscheid gültig, gibt es bspw. eine Mindestanzahl an Stimmen, die erreicht werden müssen?

Rechtsanwalt Hotstegs: Nehmen wir das Beispiel Nordrhein-Westfalen. Soll dort mit einem Volksentscheid ein Gesetz beschlossen werden, dann entscheidet die einfache Mehrheit. Sie muss aber mindestens 15 % der Stimmberechtigten entsprechen. (Art. 68 Abs. 3 LVerf NRW) Etwas anderes gilt, wenn die Landesverfassung durch den Volksentscheid geändert werden soll. Dann muss sich mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligen und zwei Drittel müssen der Änderung zustimmen (Art. 69 Abs. 3 LVerf NRW). Wir haben hier also Hürden, die sich auch an der Unterscheidung im Gesetzgebungsverfahren des Landtags orientieren, gleichzeitig aber auch ein Quorum, dass es beispielsweise bei Wahlen bekanntlich nicht gibt.

123recht.de: Können Volksentscheide auch für ungültig erklärt werden?

Rechtsanwalt Hotstegs: Diese Erklärung soll möglichst vermieden werden. Deshalb finden die Prüfungen vorab statt. Ob das Thema also zulässig oder unzulässig ist, soll vorher diskutiert werden. Dennoch ist es aber nicht ausgeschlossen, dass auch ein Volksentscheid nachträglich für ungültig erklärt würde. Das muss insbesondere dann möglich sein, wenn die Fehler erst im Abstimmungsverfahren selbst entstehen, also wenn etwa ein Abstimmungswahlkampf mit unlauteren oder staatlichen Mitteln geführt wird oder wenn Abstimmungsfehler passieren. Das muss aber am Ende die Ausnahmeentscheidung sein. Sie ist in der Regel vor den Verwaltungs- oder Verfassungsgerichten überprüfbar.

123recht.de: Muss dann nicht erneut abgestimmt werden?

Rechtsanwalt Hotstegs: Das ist denkbar, hängt aber natürlich auch von den tatsächlichen Gegebenheiten ab. Wir kennen im Wahlrecht Fehler, die zwar erwiesen sind, aber nicht als erheblich gelten. Ebenso aber Fehler, die unmittelbar auf das Ergebnis durchschlagen oder durchschlagen können und daher eine Neuabstimmung erforderlich machen. Auch hier gilt: Derartige Wiederholungen müssen die Ausnahme bleiben. Alle juristischen Diskussionen müssen vor einer Abstimmung geführt werden.

Selbst wenn es aber zur Neuabstimmung käme, stünde der jeweilige Volksentscheid in guter Gesellschaft dar. Auch Landtage mussten ja bekanntlich schon Gesetze aufheben, ändern oder nach Urteilen der Verfassungsgerichte neu beschließen. Und auch im Land der direkten Demokratie, in der Schweiz, ist beispielsweise die kommunale Neugliederung des Kantons Glarus in gleich mehreren Landsgemeindeversammlungen direktdemokratisch abgestimmt worden, weil es Bedenken gegenüber den ersten Entscheidungen gab.

"Das dürfen sich die Bürgerinnen und Bürger meiner Meinung nach auf Dauer nicht gefallen lassen"

123recht.de: Welche Folgen hat ein Volksentscheid? Ist das Beschlossene sofort verbindlich?

Rechtsanwalt Hotstegs: Der Regelfall ist die Gesetzeskraft. Der Volksentscheid tritt also an die Stelle einer Entscheidung des jeweiligen Landtags. Und hier beginnt in vielen Bundesländern dann die politische Diskussion: Darf ein Parlament anschließend klüger sein als die Bevölkerung? Kann ein neues Gesetz den Volksentscheid aufheben oder modifizieren? Oder was ist etwa, wenn ein Volksentscheid vielleicht aus tatsächlichen Gründen undurchführbar ist? Hamburg und Berlin kennen derartige Musterverfahren, in denen die repräsentative Demokratie versucht hat, Volksentscheide wieder aufzuheben oder zu unterlaufen. Das dürfen sich die Bürgerinnen und Bürger meiner Meinung nach auf Dauer nicht gefallen lassen. Ein Volksentscheid muss nicht für immer und ewig in Stein gemeißelt sein. Er kann auch - z.B. durch neuen Volksentscheid - abgeändert werden. Aber wenn sich die Bevölkerung mehrheitlich positioniert hat, ist das keine beliebige Meinungsumfrage. Dann ist das gelebte Demokratie und muss entsprechend ernst genommen werden.

123recht.de: Herr Hotstegs, vielen Dank für das informative Gespräch.

Leserkommentare
von G.Recht am 02.08.2018 15:31:17# 1
Obwohl ich grundsätzlich sehr für größtmögliche Bürgerbeteiligung bin, sehe ich das hier differenzierter. Ich möchte z.B. keinen Volksentscheid über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Aufgrund von Desinteresse und Uninformiertheit (günstigerenfalls!) halte ich das Volk in der Masse in Detailfragen für nicht entscheidungsfähig. Volksentscheide auf breiter Ebene öffnen der Manipulation der ohnehin leicht zum Kochen zu bringenden "Volksseele" Tür und Tor (Stichworte: fake news, Regenbogenpresse, Haßkommentare etc.). Wer´s nicht glaubt, mute sich einfach mal die Abgründe in Kommentaren zu politischen und gesellschaftlichen Themen auf Youtube zu.

Ohnehin stellt sich die Frage, wie man von einem Volk, das schon an Rettungsgasse und Reißverschlussverfahren scheitert, vernünftige politische Entscheidungen erwarten soll.
    
von ATH am 10.08.2018 15:15:59# 2
Am 24. September 2017 fand in Berlin parallel zur Bundestagswahl ein Volksentscheid über den Weiterbetrieb des Flughafens Berlin-Tegel statt. Nach dem offiziellen Ergebnis (also einer tatsächlichen Wahl, zu der alle Wahlberechtigten aufgerufen waren) sprachen sich 56,1 Prozent der Berliner für den Weiterbetrieb aus, 41,7 Prozent dagegen. Der Berliner Senat ignoriert jedoch dieses Ergebnis und macht einfach wie gewollt weiter. Das Argument: Mit dem Volksentscheid wurde kein Gesetz verabschiedet.

Die Initiative Volksentscheid Fahrrad hatte in Berlin hingegen "nur" 105.425 Unterschriften im Rahmen einer Vorstufe zum Volksentscheides gesammelt. Damit wäre nicht einmal die benötigte Anzahl an Unterschriften zur tatsächlichen Durchführung eines Volksentscheides erreicht, dafür hätte man nämlich später ca. 170.000 Unterschriften benötigt. Der Volksentscheid führte aber dennoch am 28. Juni 2018 zum Beschluss des Berliner Mobilitätsgesetzes durch das Abgeordnetenhaus von Berlin in dem eine Art "Forderungskatalog" der Iniative einfach zum "Gesetz" erklärt wurde. Nun wird die gesamte Stadt massiv umgestaltet.

Was bringen uns Volksentscheide, wenn deren Umsetzung dann doch wieder davon abhängt, wie einige Wenige den Entscheid auslegen? Ich denke wir brauchen klare und verbindliche Regeln, wann "das Volk" sprechen darf und wie diese Entscheidung des Volkes dann auch verbindlich umgesetzt werden muss ... sonst bringen diese Plebiszite keinen Sinn (um Mißverständnisse auszuschließen: Natürlich stets unter Wahrung unseres GG - das ist aber oben in dem Beitrag des RA Hotstegs auch ausreichend beschrieben worden).


    
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