Aktuelle Entscheidung aus Karlsruhe: Überlange Gerichtsverfahren sind verfassungswidrig

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Gerichte müssen für Beschleunigung sorgen

Das Bundesverfassungsgericht hat langsam arbeitenden Gerichten eine scharfe Rüge erteilt. In einer aktuelle Entscheidung mahnten die obersten Richter, dass alle Fachgerichte verpflichtet sind, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen. Letztlich, so betonten die Verfassungsrichter in ihrem Urteil, stelle eine überlange Verfahrensdauer eine „nicht mehr vertretbare Vorenthaltung von Rechtsschutz" und damit eine Grundrechtsverletzung dar (BVerfG, 1 BvR 3171/08 vom 2.9.2009). In dem konkreten Fall ist das langsame Gericht nun gehalten unverzüglich geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem möglichst raschen Abschluss des Verfahrens führen.

Der Fall:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein zivilgerichtliches Verfahren über Abfindungsansprüche nach der Kündigung des Sozietätsvertrages einer Steuerberaterpraxis. Die klagende Beschwerdeführerin hatte die Kündigung erklärt, weil der Beklagte Mandate auf eigene Rechnung bearbeitet hatte. Beim Landgericht Hannover ist das Verfahren seit dem Jahr 1995, also seit 14 Jahren, anhängig. Zwei Teilurteile des Landgerichts hat das Oberlandesgericht in den Jahren 2004 und 2008 aufgehoben und den Rechtsstreit jeweils an das Landgericht zurückverwiesen. Umstritten ist neben dem Wert der Praxis vor allem, ob und inwieweit die Beschwerdeführerin Mandate nach Kündigung des Sozietätsvertrages weiter betreut und dadurch Umsätze erwirtschaftet hat, die ihren Abfindungsanspruch mindern würden. Der Verfahrensausgang ist für die Beschwerdeführerin von besonderer Bedeutung, weil der geltend gemachte Anspruch ihrer Schilderung nach den Hauptbestandteil ihres Vermögens ausmacht und sie durch Schulden, die sie im Zusammenhang mit dem Erwerb der gekündigten Beteiligung an der Steuerberaterpraxis aufgenommen hatte, noch belastet ist.

Thilo Wagner
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Die außergewöhnlich lange Dauer des komplizierten Verfahrens, in dem bislang ein Gutachten und fünf Ergänzungsgutachten angefordert wurden, beruht auf einigen dem Gericht nicht anzulastenden Umständen: Neben der Komplexität des Rechtsstreits ist insbesondere zu berücksichtigen, dass erhebliche Zeit durch die Einholung der Gutachten verstrichen ist. Deren Erstellung wurde dadurch verzögert, dass erforderliche Unterlagen zeitweise durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt waren, überdies das Ergebnis der staatsanwaltlichen Ermittlungen für den Praxiswert von Bedeutung war und deshalb aus arbeits-ökonomischen Gründen abgewartet wurde, so dass das erste Gutachten erst im Jahr 2000 vorgelegt werden konnte. Eine im Jahr 2001 erhobene Widerklage und im Jahr 2002 geltend gemachte Aufrechnungen haben zu einer weiteren Erschwerung und Verzögerung des Verfahrens geführt.

Die Entscheidung:

Gleichwohl hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde angenommen und eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz festgestellt. Dem Landgericht war zwar nicht vorzuwerfen, dass es das Verfahren durch schlichte Nichtbearbeitung verzögert hätte. Die Feststellung des Verfassungsverstoßes beruht vielmehr darauf, dass sich das Landgericht angesichts der zunehmenden und schließlich außergewöhnlich langen Verfahrensdauer nicht darauf hätte beschränken dürfen, das Verfahren wie einen gewöhnlichen, wenn auch komplizierten Rechtsstreit zu behandeln. Vielmehr hätte es jedenfalls nach wenigen Jahren sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung nutzen müssen. Auch ein Bemühen um gerichtsinterne Entlastungsmaßnahmen wäre in Betracht zu ziehen gewesen. Dabei hätte das Landgericht einige Verzögerungen vermeiden können.

Der Beschluss bestätigt, dass bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, vor allem: die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien; die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten; die Schwierigkeit der Sachmaterie; das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen. Ferner haben die Gerichte auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Dauer nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen.

Die Konsequenz:

Das Verfassungsgericht hat entschieden: Alle Gerichtsverfahren müssen in angemessener Zeit zu einem Abschluss gebracht werden. Dies gilt auch für rechtlich oder tatsächliche komplexe und damit schwierige Verfahren. Solche Mammutverfahren entwickeln sich häufig, wenn um hohe Schadensersatzsummen gestritten wird oder eine umfangreiche Begutachtung notwendig ist. Ein langjähriges Verfahren sollte jedoch auch hier die unbedingte die Ausnahme sein.

Die Gerichte müssen ihre Verfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss bringen. Wie viel Zeit angemessen ist, hängt wiederum vom Einzellfall ab. Sicher ist jedoch, dass das Gericht alle Register ziehen muss, um einen schnelle Fortgang des Verfahrens zu gewährleisten. Versäumt ein Gericht diese Verpflichtung, können Sie eine Verletzung ihres grundrechtlich verbrieften Rechts auf effektiven Rechtsschutz rügen. Hierbei hilft im Zweifel Ihr im Prozessrecht erfahrener und engagierter Anwalt.

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