Corona: Massive Einschränkungen von Freiheitsrechten

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Sind die Eingriffe in die Grundrechte der Bürger wegen Covid-19 verfassungsgemäß?

Deutschland erlebt in der Coronakrise Einschränkungen von Grundrechten in nicht bekanntem Ausmaß. Aber sind die Einschränkungen legitim und verhältnismäßig? Wie viel Rechte darf der Staat beschneiden und wo sind die Grenzen? Rechtsanwältin, Verfassungsrechtlerin und juristischer Lehrbeauftragte an der Universität Koblenz Elisabeth v. Dorrien untersucht im Interview mit 123recht.de die Vorgehensweise der Regierung zur Eindämmung der Pandemie.

123recht.de: Frau v. Dorrien, wieso darf die Regierung derzeit einfach so und ohne Kontrollinstanz die Freiheitsrechte der Bürger so massiv einschränken?

Rechtsanwältin v. Dorrien: Die Regierung – das heißt vor allem die Bundeskanzlerin und die entscheidenden Minister für Gesundheit, Inneres, Verteidigung sowie Finanzen – machen es sich bestimmt nicht leicht. Und sie haben ja auch mit Augenmaß gehandelt: Eine komplette Ausgangssperre wurde nicht verhängt, sondern „nur“ eine sog. Kontaktsperre. Das bedeutet, dass die Menschen am besten zuhause bleiben und in die Öffentlichkeit nur aus zwingendem Anlass gehen sollen, und dies möglichst allein. Nur so lassen sich Infektionen vermeiden, und das ist doch im Moment das Wichtigste.

Natürlich werden dadurch die durch Artikel 2 Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf die Bewegungsfreiheit im engeren Sinne eingeschränkt: Ich kann mich nicht mehr nach Belieben von A nach B bewegen. Das Freiheitsrecht wird aber ohnehin nicht schrankenlos gewährt: Das Infektionsschutzgesetz ist ein Gesetz im Sinne des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Auch Leben und Gesundheit der anderen Menschen müssen von Staats wegen geschützt werden. Da muss die persönliche Befindlichkeit des Einzelnen im Sinne der Interessen der Allgemeinheit zurückstehen.

Und was die Kontrollinstanz angeht: Die Medien als sog. Vierte Gewalt sind in Deutschland frei in ihrer Berichterstattung und können ungehindert informieren und auch kritisieren. Das verhindert bei uns die Unterdrückung wichtiger Erkenntnisse oder die Vertuschung von Fehlentwicklungen. Wie wichtig gerade jetzt die durch Art. 5 Abs. 1 GG garantierte Informationsfreiheit ist, sehen wir ja am Negativbeispiel China.

Gesundheitsschutz ist Ländersache

123recht.de: Sind die derzeitigen Ermächtigungsgrundlagen für die getroffenen Maßnahmen ausreichend? Warum kann es in einzelnen Ländern unterschiedliche Maßnahmen geben?

Rechtsanwältin v. Dorrien: Ja, die Ermächtigungsgrundlage ergibt sich aus § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz i. V. m. § 54 IfSG, der die behördlichen Zuständigkeiten regelt. Daraus ergibt sich, dass der Gesundheitsschutz (wie auch der Katastrophenschutz) Ländersache ist.

Deutschland ist eben ein föderaler Bundesstaat, der die Macht vertikal auf die 16 Bundesländer und die dortigen Institutionen verteilt. Die Bündelung von Exekutivbefugnissen, wie es in zentralistischen Staaten wie Großbritannien, Italien oder Frankreich der Fall ist, kann in einer Situation wie dieser Vorteile haben – etwa dass schneller und koordinierter angeordnet und gehandelt werden kann. In „normalen“ Zeiten hat aber auch der Föderalismus Vorteile, gerade bei den regionalen Unterschieden, wie wir sie in Deutschland haben. Klar, ein starkes Land wie Bayern prescht dann schon mal vor und zieht die anderen hinterher. Aber das ist ja nicht verkehrt – den Obrigkeitsstaat haben wir ja aus guten historischen Gründen überwunden. Im Übrigen wird bereits an einer Novelle des Infektionsschutzgesetzes gearbeitet, um Situationen wie die Corona-Krise in Zukunft vorrangig vom Bund aus zu steuern.

"Maßnahmen der Exekutive müssen stets verhältnismäßig sein"

123recht.de: Wenn Maßnahmen grundsätzlich erlaubt sind - Gibt es Grenzen? Woran macht man das fest?

Rechtsanwältin v. Dorrien: Letztlich ist die Grenze alles behördlichen Handelns immer Artikel 1 GG: Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Staatsmacht. Maßnahmen der Exekutive müssen deshalb stets verhältnismäßig sein, und insoweit ist staatliches Handeln auch im politischen Rahmen immer gerichtlich überprüfbar. Insofern gilt die Rechtswegegarantie des Art. 19 Abs. 4 GG: Wenn man mit Maßnahmen nicht einverstanden ist, kann man vor Gericht dagegen klagen, bis hin zu einer Verfassungsbeschwerde. Das System der Gewaltenteilung und des checks and balances schafft einen Schutzwall gegen staatliche Willkür und Verstöße gegen die Verhältnismäßigkeit.

Aber man muss auch sehen: Es kann erforderlich sein, Grundrechte wie die Berufsausübungsfreiheit oder das Recht zur Nutzung des Eigentums einzuschränken. Das nennt das Staatsrecht „Sonderopfer“, und das kann, wie wir gerade sehen, jeden Einzelnen treffen. Aber der Staat ist dann auch verpflichtet, Entschädigung zu leisten, und daran arbeitet die Bundesregierung ja gerade und legt ein riesiges Hilfspaket auf. Ob das alle Umsatzeinbußen und Verdienstausfälle auffangen und ausgleichen wird, ist sehr fraglich. Wenn man sich die Enteignungen im Zuge von Bergbaumaßnahmen wie im Braunkohlerevier ansieht, dann erkennt man, wie schwer es die Bürger treffen kann, und nicht alles kann eins zu eins ausgeglichen werden. So weitreichende Befugnisse sollte eigentlich der deutsche Staat nicht mehr haben. Die Kämpfe um den Hambacher Forst zeigen insoweit den Bewusstseinswandel.

Schnelle Reaktion ist wichtig

123recht.de: Sind die gegenwärtigen Maßnahmen denn verhältnismäßig?

Rechtsanwältin v. Dorrien: Eine gute Frage! Es ist eine so ungeheuerliche Situation, wie es sie noch nie gegeben hat, dass man geneigt ist zu sagen: Ungewöhnliche Umstände erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Aber das ist bei der unvorstellbaren Vielzahl von Einschnitten in das tägliche Leben und Arbeiten praktisch der ganzen Bevölkerung natürlich zu kurz gesprungen. Und doch gilt: Es fehlt ganz einfach die Zeit, jede einzelne Maßnahme anhand ihrer Auswirkungen im Detail zu prüfen, wie das etwa bei Gesetzgebungsprozessen der Fall ist.

Hier und jetzt geht es um schnelle Reaktion, auch wenn man es nicht so pathetisch ausdrücken mag wie mancher Ministerpräsident. Aber warum eigentlich nicht? Für uns alle geht es um Leben und Tod – nicht für jeden von uns, aber wer weiß das? Es gibt eben nicht die eine sichere Prognose, selbst die Wissenschaftler sind noch uneins in vielen Fragen, die das neuartige Virus aufwirft.

Deshalb ist die Devise „so viel einschränken wie möglich“ richtig, selbst wenn sich irgendwann einmal herausstellen sollte, dass manches übertrieben war. Die Politik kann sich insofern keinen „Mut zur Lücke“ leisten.

"Die Gesundheit der Vielen ist höher zu bewerten als die Freiheit des Einzelnen"

123recht.de: Darf man Güter wie Freiheit und Leben gegeneinander abwägen?

Rechtsanwältin v. Dorrien: Ganz klar: Ja! Der Staat muss das sogar tun. Denn im Bereich der Grundrechte geht es immer um Abwägung, im Wortsinne: Welches Recht wiegt angesichts welcher denkbaren Folgen schwerer? Das ist in diesem Zusammenhang recht leicht zu beantworten: Die Gesundheit der Vielen ist höher zu bewerten als die Freiheit des Einzelnen. Und wenn der Schutz der Bevölkerung im Allgemeinen sowie der alten und bereits durch andere Erkrankungen geschwächten Menschen im Besonderen es erfordert, das öffentliche Leben – mit Ausnahme der „systemrelevanten“ Bereiche wie Ver- und Entsorgungsbetriebe, Gesundheit, Post- und Warenverkehr – komplett stillzulegen, dann muss die Regierung diese Entscheidung so treffen, ihr Ermessen ist insoweit reduziert. Man darf bei aller Sorge um die Auswirkungen auf Wirtschaft, Bildung, Kultur und Sport nicht vergessen, dass es ja auch die eigene Gesundheit ist, die jetzt geschützt wird. Selbst wer eine COVID-19-Infektion überstanden hat, weiß nicht sicher, ob er immun ist, weil dafür die wissenschaftlichen Belege noch fehlen. Die Dimensionen dieses allumfassenden shut down sind gigantisch – eine Alternative ist aber nicht erkennbar.

Langfristige Auswirkungen können von niemandem seriös abgeschätzt werden

123recht.de: Was ist mit den Folgen, wie eine mögliche Wirtschaftskrise, Insolvenzen, zerstörte Finanzgüter, unabsehbare Langzeitfolgen für das Gesundheitssystem...? Darf man so etwas auch in die Abwägung einbeziehen?

Rechtsanwältin v. Dorrien: Wie gesagt, es geht um Maßnahmen, deren langfristigen Auswirkungen von niemandem seriös abgeschätzt werden können. Aber die ureigene Aufgabe des Staates ist es ja, die Bevölkerung vor Gefahren zu schützen, dafür wurde er sozusagen erfunden. Konkret sind es die politischen und behördlichen Institutionen, die in einer Art Verantwortungspyramide dazu berufen sind, zügig Entscheidungen zu treffen und für ihre Umsetzung zu sorgen. Da greift jedes Rad ins nächste – so ist es in einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft wie der deutschen vorgesehen.

Der Einzelne sieht naturgemäß nur den eigenen Verantwortungsbereich – das sieht man an den irrationalen „Hamsterkäufen“ (die Fleischtheke ist gut gefüllt, das Toilettenpapier ausverkauft – wovor haben die Menschen eigentlich wirklich Angst?). Von der Bundesregierung abwärts ist ein System der Entscheidungsketten installiert, das dafür sorgt, alle widerstreitenden Interessen auszubalancieren. Deshalb ging mit der Anweisung der Schließung aller Geschäfte und Restaurants sogleich die Ankündigung eines großangelegten finanziellen Maßnahmenpakets einher, so dass jedem Gewerbetreibenden, Mieter, Unternehmer, Künstler etc. gesagt werden konnte: Auch Dir wird geholfen werden!

Aber die öffentliche Gesundheit erfordert diese drastischen Einschränkungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens. Niemand hat wirklich sagen können, wie das alles ausgehen wird – und doch musste angesichts der Katastrophe in Italien und Spanien gehandelt werden. Die alte und berechtigte Anweisung, immer auch das Ende mitzubedenken, war insofern außer Kraft gesetzt – aber das heißt nicht, dass eine Abwägung nicht stattgefunden hat. Es war nur eindeutig der größere Auftrag, die Gesundheit aller zu schützen.

123recht.de: Gibt es aktuell keine denkbaren milderen Mittel? Wieso wird z.B. nicht die so genannte Risikogruppe isoliert und das öffentliche und wirtschaftliche Leben ansonsten in Gang gehalten?

Rechtsanwältin v. Dorrien: Wie soll das gehen? Nehmen wir als Beispiel eine Schule. Alle Kinder gehen weiterhin in den Unterricht, aber nur die jungen Lehrer dürfen unterrichten? Die älteren müssen zuhause bleiben, weil sie der Risikogruppe angehören? Ab welchem Alter soll das gelten – ab 55 oder erst ab 60 Jahren? Und die Vorerkrankten? Wer soll diese Auswahl treffen? Wenn die Kinder sich nun untereinander anstecken, wäre das vielleicht noch hinnehmbar, denn bisher ist noch kein Fall eines erkrankten Kindes unter 18 bekannt geworden. Aber diese Kinder stecken dann zuhause ihre Eltern an – vielleicht ist die Mutter Asthmatikerin, der Vater Raucher. Dann steht nicht nur die ganze Familie unter Quarantäne – es trifft auch gleich zwei Menschen aus Risikogruppen, von den womöglich mitbetroffenen Großeltern zu schweigen.

Wenn man das nur ansatzweise durchrechnet, kommt man schnell zum Ergebnis, dass bereits ein kleiner Teil des aufrechterhaltenen sozialen Lebens zu einer Infektionsrate führen kann, die das Gesundheitssystem vor diejenigen Herausforderungen stellt, die in Italien so dramatisch eingetreten sind. Zwar ist Deutschland mit Intensivbetten und medizinischer Ausstattung gut aufgestellt, aber es ist ein reines Zahlenproblem, das hier deutlich wird. Und das wollten die Bundesregierung ebenso wie die einzelnen Länderchefs nicht riskieren – weil eben niemand wirklich sagen kann, wie die Infektionsrate sich entwickelt. Klar war aber – auch angesichts der Entwicklungen in den schwer betroffenen Ländern – , dass nicht abgewartet werden konnte, ohne viele Menschen zu gefährden. Wenn man also das wirtschaftliche Leben mit Einschränkungen hätte weiterlaufen lassen, dann wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen und die Krankenhäuser wären einem Ansturm ausgesetzt gewesen, den sie vielleicht nicht so gut bewältigt hätten. Sie können es aber schaffen, wenn die Kurve flach bleibt.

123recht.de: Regieren uns, salopp gesagt, zur Zeit Virologen?

Rechtsanwältin v. Dorrien: Die Virologen beraten die politischen Entscheidungsträger – entscheiden, also regieren muss die Bundesregierung, müssen die Landesregierungen aber selbst. Wenn man sich die Allgemeinverfügung anschaut, die das Land Sachsen erlassen hat und die sehr detailliert ist, dann erhält man einen Eindruck davon, wie viele Einzelentscheidungen getroffen wurden – auf der Basis der wissenschaftlichen Empfehlungen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr! Das heißt, es sind jeweils diejenigen Maßnahmen durchgesetzt worden, die eine weitreichende, „exponentielle“ Verbreitung des Virus (zu schnell zu viele) verhindern sollen. Insofern haben sich die Politiker auf den Rat und die wissenschaftliche Erfahrung der Epidemiologen und Virologen gestützt, aber diese waren nicht Teil der Regierung, wie das bei einer sog. Expertenregierung durchaus vorkommen kann.

Medien kontrollieren jede Entscheidungen in Echtzeit

123recht.de: Wie können die Maßnahmen der Regierung überprüft und kontrolliert werden?

Rechtsanwältin v. Dorrien: Zunächst kontrollieren die Medien, und zwar ununterbrochen in Echtzeit. Kaum dass eine Entscheidung getroffen und publiziert wurde, wird sie im Internet diskutiert und bewertet. Das ist die beste Kontrolle, die eine offene, kritische Gesellschaft haben kann.

Da es ja auch viele medizinische Fachleute gibt, die sich über die Medien äußern, ist ein ständiger Fluss an Expertise und Meinungen zu beobachten. Auch die Talkshows tun hier mal etwas Gutes, indem die Ärzte auch untereinander diskutieren und in aller Öffentlichkeit die Maßnahmen der Regierung hinterfragen oder unterstützen. Davon bleibt ja auch die Exekutive nicht unberührt. Sie könnte es sich gar nicht leisten, gegen den veröffentlichten Rat von Experten zu handeln, das wäre bestenfalls ein Kommunikationsdesaster, im schlimmsten Fall aber fühlten sich die Menschen allein gelassen und verlören das Vertrauen in die Politik. Gerade zur Zeit ist das ein heißes Thema, das wird kein Politiker riskieren. Transparenz, öffentliche Erklärungen und Erläuterung der Maßnahmen sind daher die beste Medizin gegen Angst und Gerüchte. Das hat ja auch Frau Merkel inzwischen verstanden, sie äußert sich in dieser Krise viel häufiger als in allen anderen davor.

Der einzelne Bürger kann im übrigen mit einer Einstweiligen Anordnung gegen behördliche Maßnahmen vorgehen. Ein Widerspruch würde nichts nützen, da (siehe die sächsische Allgemeinverfügung) die sofortige Vollziehung aller Maßnahmen angeordnet wird, das heißt, ein Rechtsmittel hätte keine aufschiebende Wirkung – in diesem Zusammenhang eine ziemlich absurde Vorstellung, dass ein Einzelner mit einem Widerspruch die Infektionsschutzmaßnahmen torpedieren könnte (das verhindert § 16 Abs. 8 Infektionsschutzgesetz auch ausdrücklich). Eine andere Sache sind die Entschädigungen, die aufgrund der Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes zu leisten sein werden (siehe den Abschnitt 12 sowie § 69 des Gesetzes). Hier wird es nach der Beendigung der Maßnahmen sicher noch viel Streit geben. Es ist vielleicht keine schlechte Idee, sich als Anwalt mit diesen Vorschriften schon heute vertraut zu machen, um die Mandanten dann schnell beraten und vertreten zu können.

123recht.de: Vielen Dank für das interessante Gespräch.