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Acht kleinere Parteien kippen die Sperrklausel im NRW-Kommunalwahlrecht

Der Verfassungsgerichtshof NRW ist ein Gericht, das weitgehend unbekannt ist und von keinem Bürger direkt angerufen werden kann. Er behandelt vor allem Streitigkeiten der Verfassungsorgane untereinander und so genannte "Organstreitigkeiten", die auch von politischen Parteien angestrengt werden können.

Nun hat er ein Jahr lang über die Anträge von acht Parteien und Landesverbänden beraten und im Oktober verhandelt. Seit dem 21. November 2017 steht das Urteil fest: Die in der Landesverfassung eingeführte Sperrklausel von 2,5% für die Wahlen zu den Räten und Kreistagen ist verfassungswidrig. Sie verstieß gegen Wahlrechts-Grundsätze von Grundgesetz und Landesverfassung. (Urteil v. 21.11.2017, Az. VerfGH 21/16 u.a.)

David gegen Goliath

Das politische Spektrum der Antragsteller reichte von rechts bis links. Auch wenn sie sonst nichts gemein haben: Sie haben allesamt den Antrag gestellt, das Gericht möge feststellen, dass eine Vorschrift in der Landesverfassung gegen das Grundgesetz verstößt. Den Kern der Verfahren bildete die Sperrklausel im kommunalen Wahlrecht, die der Landtag erst im Sommer 2016 eingeführt hatte.

Auf der Seite des Antragsgegners war der Landtag durch Mitglieder aus den Fraktionen der CDU, SPD und von Bündnis 90/Die Grünen vertreten. Diese drei Fraktionen hatten seinerzeit die Sperrklausel beschlossen und die verfassungsändernde Mehrheit gestellt.

Argumentation auf Sand gebaut

Der Landtag nahm für sich in Anspruch, er müsse sich nicht am Grundgesetz messen lassen, wenn er die Landesverfassung ändere. Darüber hinaus gebe es viele Stadträte, die „unregierbar" seien. Gerade durch kleine Parteien und Kleinstparteien, vor allem auch durch einzelne Rats- oder Kreistagsmitglieder werde es immer schwieriger, Mehrheiten zu finden und vor Ort Beschlüsse zu fassen.

Dem widersprachen alle Antragsteller und schließlich auch der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen. Ein Beleg dafür, es gäbe "unregierbare" Räte oder Kreistage, ist weder im Gesetzgebungsverfahren, noch im Anhörungsverfahren oder im Gerichtsverfahren vorgelegt worden.

Im Gegenteil: Im Verlauf der mündlichen Verhandlung wurde noch einmal anhand des Stadtrats in Dortmund deutlich, sogar in sehr kleinteiligen Räten, mit vielen Fraktionen und zusätzlichen Einzelmitgliedern, sind kurze Ratssitzungen möglich. Ebenso Mehrheitsbeschlüsse.

Urteilsbegründung wie in Stein gemeißelt

Die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs führte in der mündlichen Urteilsbegründung aus:

"Zu diesen zwingenden Vorgaben für die Ausgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern gehöre der Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Die Sperrklausel bewirke eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswertes, da Stimmen für solche Parteien und Wählervereinigungen, die an der 2,5 %-Hürde scheiterten, ohne Einfluss auf die Sitzverteilung blieben.

Für die Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage sei diese Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt. [...] Berufe sich der Gesetzgeber aber zur Rechtfertigung einer Sperrklausel auf eine solche anderenfalls drohende Funktionsunfähigkeit, müsse er für die dann zu erstellende Prognose alle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht für die Einschätzung der Erforderlichkeit einer Sperrklausel relevanten Gesichtspunkte heranziehen und abwägen. Er dürfe sich nicht mit einer abstrakten, schematischen Beurteilung begnügen. Die Prognose müsse vielmehr nachvollziehbar begründet und auf tatsächliche Entwicklungen gerichtet sein, deren Eintritt der Gesetzgeber ohne die in Rede stehende Wahlrechtsbestimmung konkret erwartet. Eine durch das vermehrte Aufkommen kleiner Parteien und Wählervereinigungen bedingte bloße Erschwerung der Meinungsbildung dürfe er nicht mit einer Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit gleichsetzen.

Diese bereits früher von der Verfassungsrechtsprechung in Bezug auf einfachgesetzliche Sperrklauseln formulierten Anforderungen würden auch für eine unmittelbar in der Landesverfassung geregelte Sperrklausel gelten. Ein spezifischer Spielraum des landesverfassungsändernden Gesetzgebers für Differenzierungen innerhalb der Wahlrechtsgleichheit bestehe nicht.

Dass die 2,5 %-Sperrklausel zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinderäte und Kreistage erforderlich ist, sei weder im Gesetzgebungsverfahren noch im Rahmen der Organstreitverfahren in der gebotenen Weise deutlich gemacht worden. Die gesetzgeberische Prognose sei weder in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig noch sei ihre Begründung in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Die Gesetzesbegründung erschöpfe sich im Wesentlichen in abstrakten, schematischen Erwägungen zu möglichen negativen Folgen einer Zersplitterung der Kommunalvertretungen. Dass es nach Wegfall der früheren 5 %-Sperrklausel durch eine gestiegene Zahl von Kleingruppen und Einzelmandatsträgern zu relevanten Funktionsstörungen von Gemeinderäten und Kreistagen oder zumindest zu Entwicklungen gekommen wäre, die Funktionsstörungen möglicherweise zur Folge haben könnten, werde zwar behauptet, nicht aber in nachvollziehbarer Weise anhand konkreter empirischer Befunde belegt."

Ergebnis

Die Verfassungsänderung von 2016 muss der Landtag in der derzeitigen Form nun zurücknehmen. Er ist an das Urteil aus Münster gebunden.

Leider haben die Fraktionen von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen angekündigt, erneut eine Sperrklausel schaffen und dann besser begründen zu wollen. Es ist daher absehbar, dass wohl weitere Organstreitigkeiten geführt werden müssen, um das Wahlrecht zu schützen.

Der Ball liegt nun also zuerst im Landtag, langfristig aber natürlich wieder beim Wähler.

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