Patientenaufklärung über Behandlungsalternativen

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Sachverhalt

BGH Urteil vom 15. März 2005, Az VI ZR 313/03

Die klagende Patientin war vom 16. Dezember 1996 bis 18. Februar 1997 nach einem im Krankenhaus konservativ versorgten Bruch in der Nähe des rechten Handgelenks in ärztlicher Betreuung des Arztes. Der Bruch ist in Fehlstellung verheilt. Die Patientin beanstandet, der Arzt habe ein fortschreitendes Abkippen des Bruchs bemerkt, aber sie trotz der Gefahr einer bleibenden Funktionsbeeinträchtigung des Handgelenks nicht auf die weiteren Behandlungsmöglichkeiten einer (unblutigen) erneuten Reposition oder einer Operation des Bruchs hingewiesen. Sie begehrt ein Schmerzensgeld, das sie in Höhe von 20.000 Euro für angemessen hält, Ersatz materiellen Schadens in Höhe von 34.081,97 Euro sowie die Feststellung der Verpflichtung des Arztes zum Ersatz des zukünftigen materiellen und immateriellen Schadens.

Das Landgericht und das Oberlandesgerichts Nürnberg haben die Klage abgewiesen. Das OLG führt zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen aus, der Arzt habe die Patientin spätestens am 23. Dezember 1996 darauf hinweisen müssen, dass statt der weiteren konservativen Behandlung auch eine erneute Reposition oder eine Operation des Bruchs in Erwägung zu ziehen sei. Der Arzt habe zwar von einer Erörterung dieser Möglichkeiten mit der Patientin abgesehen, dies führe aber nicht zu seiner Haftung. Die unterlassene Erörterung der anderweitigen Therapiemöglichkeiten habe nur dann haftungsrechtliche Folgen für den Arzt, wenn die Patientin nachweise, dass sie sich für einen Eingriff entschieden hätte und dass auf diesem Wege die Folgen auch vermieden worden wären. Diesen Nachweis habe sie nicht geführt. Zum einen sei die Fortsetzung der konservativen Behandlung nicht fehlerhaft gewesen. So habe nicht die konkrete Erwartung bestanden, dass bei Fortsetzung der konservativen Behandlung das rechte Handgelenk optisch und wahrscheinlich auch funktionell nicht habe wiederhergestellt werden können.

Zum anderen sei völlig offen, für welche Behandlungsmethode sich die Patientin nach ordnungsgemäßer Aufklärung entschieden haben würde. Selbst wenn davon auszugehen sei, dass sie den operativen Eingriff gewählt hätte, sei jedenfalls nicht bewiesen, dass dieser zu einem besseren Ergebnis geführt hätte. Er sei nicht nur mit einem statistischen Risiko der Wundheilungsstörung behaftet gewesen. Durch eine Operation habe zwar eine anatomisch einwandfreie Gelenkstellung erreicht werden können, doch sei dieses Ergebnis nicht sicher gewesen, weil es auch zu einem Morbus Sudeck habe kommen können. Der Sachverständige habe zudem die Gefahr einer bleibenden Funktionsbeeinträchtigung des Gelenks auch für den Fall einer Operation nicht ausschließen können.

Die Entscheidung des BGH

Es ist Pflicht des behandelnden Arztes, den Patienten über die in seinem Fall bestehenden Behandlungsmöglichkeiten mit wesentlich unterschiedlichen Risiken oder wesentlich unterschiedlichen Erfolgsaussichten in Kenntnis zu setzen und ihm als Subjekt der Behandlung die Wahl zwischen den gleichermaßen medizinisch indizierten Behandlungsmethoden zu überlassen.

  1. Selbstbestimmungsaufklärung oder Risikoaufklärung

    Die Wahl der Behandlungsmethode ist primär Sache des Arztes. Gibt es indessen mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Behandlungsmethoden, die wesentlich unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen aufweisen, besteht mithin eine echte Wahlmöglichkeit für den Patienten. Dann muss diesem nach entsprechend vollständiger ärztlicher Aufklärung die Entscheidung überlassen bleiben, auf welchem Wege die Behandlung erfolgen soll und auf welches Risiko er sich einlassen will. Es geht dabei um die dem Patienten geschuldete Selbstbestimmungsaufklärung oder Risikoaufklärung und nicht um therapeutische Aufklärung (Sicherungsaufklärung). Die Pflicht zur Selbstbestimmungsaufklärung ist in gleicher Weise Nebenpflicht des Behandlungsvertrags wie Ausfluss der Garantenstellung des Arztes.

    1. Informationspflicht über Behandlungsalternative

      Die Voraussetzungen für eine Beteiligung der Patientin an der Therapiewahl lagen nach den Feststellungen des OLG Nürnberg vor. Die Fortsetzung der konservativen Behandlung war nach dem 23. Dezember 1996 nicht fehlerhaft, sondern eine von mehreren Möglichkeiten zur Behandlung des Bruchs. Dem angefochtenen Urteil ist auch zu entnehmen, dass das OLG in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Sachverständigen K. der Behandlung mittels (unblutiger) Reposition oder operativer Neueinrichtung des Bruchs wesentlich unterschiedliche Risiken und Erfolgsaussichten beimisst, die der Patientin eine echte Wahlmöglichkeit eröffneten und daher ihre Beteiligung an der Therapiewahl erforderten. Das OLG geht deshalb mit dem Sachverständigen K. davon aus, der Arzt habe spätestens am 23. Dezember 1996 die Patientin darauf hinweisen müssen, dass statt einer Fortsetzung der konservativen Behandlung auch eine erneute Reposition oder eine Operation des Bruchs in Erwägung zu ziehen gewesen wäre, weil einerseits infolge des "abgekippten" Bruchs und eines gelenknahen Knochenbruchstücks die Gefahr einer bleibenden Funktionsbeeinträchtigung des rechten Handgelenks, andererseits aber bei erneuter (unblutiger) Reposition oder Operation die Gefahr eines Morbus Sudeck bestand. Das OLG hat dies ersichtlich als unterschiedliche Risiken und unterschiedliche Erfolgschancen gewertet. Das ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

    2. Haftung des Arztes

      Unter diesen vom OLG festgestellten Umständen war der Arzt spätestens am 23. Dezember 1996 verpflichtet, die Patientin nicht nur davon in Kenntnis zu setzen, dass der Bruch in Fehlstellung zu verheilen drohte (so genannte Diagnoseaufklärung), sondern auch davon, dass eine bei Fortsetzung der konservativen Behandlung drohende Funktionseinschränkung des Handgelenks möglicherweise durch eine erneute (unblutige) Reposition oder durch eine primäre operative Neueinrichtung des Bruchs vermieden werden könne, ihr die Chancen und Risiken dieser möglichen unterschiedlichen Behandlungsmethoden zu erläutern und sodann zusammen mit ihr die Wahl der Therapie zu treffen. Der Arzt hat jedoch die der Patientin eröffnete Wahl ohne ordnungsgemäße Beteiligung der Patientin allein getroffen und die konservative Behandlung fortgesetzt. Die Behandlung der Patientin erfolgte hiernach ohne ihre wirksame Einwilligung, war rechtswidrig und vom Arzt zu vertreten. Der Arzt haftet daher für die aus dieser rechtswidrigen Behandlung entstandenen und entstehenden Folgen.

  2. Hypothetischer Kausalverlauf

    Zu Unrecht meint das OLG, das Unterlassen der Aufklärung über die Behandlungsalternativen habe nur dann haftungsrechtliche Folgen für den Arzt, wenn die Patientin den Nachweis führen könne, dass sie sich für eine (unblutige) Reposition oder einen operativen Eingriff entschieden und die gewählte Behandlung die beklagten Folgen vermieden hätte.

    1. Keine Einwilligung ohne Aufklärung

      Das lässt den Umstand außer Acht, dass die Patientin in die Behandlung ohne vollständige Aufklärung über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten und deren Erfolgsaussichten und Gefahren nicht wirksam eingewilligt hat. Erst eine nach vollständiger und gewissenhafter Aufklärung des Patienten wirksame Einwilligung ("informed consent") macht den Eingriff in seine körperliche Integrität rechtmäßig. Das gilt auch dann, wenn die Behandlung - wie hier - in der eigenverantwortlichen Fortsetzung einer von anderer Seite begonnenen Therapie besteht.

    2. Bloße Vermutungen über Patientenentscheidung

      Die Patientin beanstandet mit Erfolg, dass das OLG ohne persönliche Anhörung der Patientin Vermutungen darüber angestellt hat, wie diese sich entschieden hätte. Selbst wenn der Arzt sich - was dem angefochtenen Urteil allerdings nicht zu entnehmen ist - auf den Einwand einer hypothetischen Einwilligung berufen und vorgetragen haben sollte, dass die Patientin auch nach ordnungsgemäßer Aufklärung in die Fortsetzung der konservativen Behandlung eingewilligt hätte, hätte das OLG zwar diesen Einwand des Arztes beachten, aber auch die Beweislastverteilung berücksichtigen müssen. In den Fällen, in denen der Patient aus einem Aufklärungsversäumnis des Arztes Ersatzansprüche ableitet, ist die Behauptungs- und Beweislast auf beide Prozessparteien verteilt. Die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass sich der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zu der tatsächlich durchgeführten Behandlung entschlossen hätte, trifft nicht den Patienten, sondern den Arzt. Der Arzt ist jedoch erst dann beweisbelastet, wenn der Patient zur Überzeugung des Tatrichters plausibel macht, dass er - wären ihm rechtzeitig die Risiken der Behandlung verdeutlicht worden - vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte. Das gilt in gleicher Weise, wenn der Arzt den Patienten über mehrere, aus medizinischer Sicht indizierte Behandlungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Erfolgsaussichten und Risiken aufzuklären hat. Auch diese Aufklärung über die bestehenden unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten dient - wie erwähnt - dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und ist daher Voraussetzung einer rechtmäßigen Behandlung.

      Im Rahmen der dem Gericht obliegenden Prüfung der Plausibilität eines Entscheidungskonflikts kommt es allein auf die persönliche Entscheidungssituation des konkreten Patienten aus damaliger Sicht an, nicht dagegen darauf, ob ein "vernünftiger" Patient dem entsprechenden ärztlichen Rat gefolgt wäre. Feststellungen hierzu darf das OLG grundsätzlich nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen. Maßgebend ist insoweit nicht, wie sich der Patient entschieden hätte. Ausreichend ist, dass er durch die Aufklärung in einen echten Entscheidungskonflikt geraten wäre. Das wird das OLG Nürnberg bei entsprechendem Vortrag der Parteien zu beachten haben.

  3. Beweislast

    Soweit dem OLG-Urteil die Auffassung zugrunde liegt, die Patientin müsse beweisen, dass eine (unblutige) Reposition oder eine Operation den eingetretenen Schaden verhindert hätte, beruht es auf einer Verkennung der Beweislast.

    1. Haftungsbegründende Kausalität

      Die Patientin beanstandet zwar ohne Erfolg, dass das OLG den Nachweis der Kausalität dem Beweismaß des § 286 Abs. 1 ZPO, nicht dem des § 287 Abs. 1 ZPO unterstellt hat. Es geht im zu entscheidenden Fall um die haftungsbegründende, nicht um die haftungsausfüllende Kausalität. Hier sind nicht vermehrte Schmerzen der Patientin als Sekundärschäden im Streit. Die Fortsetzung der konservativen Behandlung war nicht der "erste Verletzungserfolg" (Primärschaden), der es gestatten würde, die Funktionsbeeinträchtigungen des Handgelenks als bloße Folgeschäden anzusehen. Die Beeinträchtigungen des Handgelenks sind vielmehr der Schaden in seiner konkreten Ausprägung und damit der Primärschaden, für den der Ursachenzusammenhang mit dem Aufklärungsfehler nach § 286 Abs. 1 ZPO nachzuweisen ist.

    2. Beweispflicht des Arztes

      Das OLG verkennt aber, dass die Frage, ob eine Reposition oder eine Operation zu einem besseren Ergebnis geführt hätte, nicht die Kausalität der tatsächlich durchgeführten konservativen Behandlung für den eingetretenen Schaden, sondern einen hypothetischen Kausalverlauf im Falle des rechtmäßigen Alternativverhaltens betrifft, für den der Arzt beweispflichtig ist.

      Die geklagten Beschwerden beruhen (entsprechend dem tatsächlichen Verlauf der Behandlung) zumindest mit auf der Fortsetzung der konservativen Behandlung. Diese Behandlung sollte u.a. dazu dienen, eine Fehlstellung des Bruchs und eine Funktionsbeeinträchtigung des Handgelenks möglichst zu vermeiden. Dazu war sie nach fortgeschrittenem Abkippen des Bruchs und der fehlenden Rückverlagerung des abgesprengten Knochenstücks ab dem 23. Dezember 1996 jedoch nicht mehr geeignet. Dementsprechend hat die Fehlstellung in der Folge noch zugenommen und das Knochenstück ist nicht "zurückgerutscht".

      Der Ansicht des OLG, das sei deswegen unbeachtlich, weil das Ergebnis auch nach einer operativen Behandlung möglicherweise nicht anders gewesen wäre, liegt ersichtlich die Annahme eines hypothetischen Kausalverlaufs im Falle des rechtmäßigen Alternativverhaltens zugrunde, für den die Behandlungsseite beweispflichtig ist. Diese kann zwar geltend machen, der gleiche Gesundheitsschaden wäre auch nach einer Reposition oder einer primären Operation entstanden, wenn eine dieser Behandlungsmethoden gewählt worden wäre. Nur dann aber, wenn dieser Verlauf feststünde, könnte die Haftung des Arztes für die Folgen seiner rechtswidrigen Vorgehensweise verneint werden. Dieses Beweisrisiko geht nämlich zu Lasten des Arztes, der dementsprechend nicht nur die Möglichkeit eines solchen Verlaufs, sondern beweisen müßte, dass derselbe Misserfolg auch nach Wahl einer solchen anderen Behandlungsmethode eingetreten wäre.

Wirkung für die Praxis

Der Arzt hat den Patienten sehr sorgfältig und umfassend über bestehende unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären. Dies dient dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und ist daher Voraussetzung einer rechtmäßigen ärztlichen Behandlung.

Die Frage, ob eine bestehende andere Behandlungsmöglichkeit zu einem besseren Behandlungsergebnis geführt hätte, betrifft regelmäßig den hypothetischen Kausalverlauf im Falle des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Dafür ist der Arzt beweispflichtig, nicht der Patient.

Die erfreuliche Entscheidung stärkt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten.

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