Mehr Mitgefühl

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Mitgefühl ist mutig - und keinesfalls ein Zeichen von Schwäche

In der mündlichen Prüfung zum zweiten juristischen Staatsexamen wurde ein Rollenspiel durchgeführt und ein Mandantengespräch simuliert. Der Kandidat sollte Anwalt sein, einer der Prüfer war der Mandant. Er schilderte vom Streit mit seinen Vater, dass der Vater ihm Geld schulde und dass der Kontakt zum Vater derzeit auf Eis gelegt sei. Er wollte vom Rechtsanwalt wissen: Was kann er nun tun, um an sein Geld zu kommen?

Der Examenskandidat ging sofort ins rechtliche Eingemachte, nannte Paragrafen und Anspruchsgrundlagen für die Geldforderung und die formalen juristischen Wege, die man als Gläubiger nun gegenüber dem Schuldner einleiten müsste.

Der Prüfer verzog keine Miene und fragte den zweiten Prüfling, wie er geantwortet hätte. Der angehende Volljurist bestätigte die Antwort des ersten Kandidaten und ergänzte: Auch aus diesem und jenem Paragrafen könnte sich ein Anspruch auf das Geld ergeben, der Vater hätte dann weniger Möglichkeiten, sich zu verteidigen. Er würde dringend zu dieser Vorgehensweise raten.

Als der Prüfer den dritten Prüfling nach seiner Antwort fragte, reagierte dieser völlig anders. Der Kandidat ließ Paragrafen und Fachwissen komplett außen vor und sprach mit dem Sohn über den Vater und die Beziehung zum Vater in der Vergangenheit. Wie es zum Bruch kam, wie er sich jetzt fühle, so ohne Kontakt zum Vater. Ob er das schade finde und ob er sich vorstellen könne, in Zukunft wieder eine normalisierte Vater-Sohn-Beziehung aufzubauen.

Danach riet er von juristischen Schritten ab. Dies würde das Verhältnis zum Vater nur noch nachhaltiger zerrütten. Er versuchte dem Sohn zu vermitteln, wie der Vater sich wohl fühlen mag. Er bot dem Sohn an, mit dem Vater zu reden und zeigte alternative Wege der gütlichen Einigung auf - alles mit dem Ziel, Vater und Sohn wieder zusammenzubringen.

Der dritte Kandidat bekam für diese Aufgabe die meisten Punkte.

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