Wohnruhe und Gewerbelärm (Tischlerei): Besonderer Lärmschutz in Tagesrandzeiten

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1. Ein besonderer Lärmschutz der Tagesrandzeiten ist nach Nr. 6.5 TA Lärm ist für Dorfgebiete nicht vorgesehen.
2. Unter dem Blickwinkel des Gebots der Rücksichtnahme müssen die Tagesrandzeiten dennoch kritisch betrachtet werden, wenn besondere Umstände wie Gemengelagen oder sonstige Besonderheiten i.S. von § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO gegeben sind und es um das Schutzbedürfnis von Wohnhäusern geht.
3. Es liegt auf der Hand, dass das Ruhebedürfnis der Wohnbevölkerung "nach getaner Arbeit", also an den Abenden und den Wochenenden, besonders ausgeprägt ist.
4. Besondere Umstände in diesem Sinne können bei einem geringen räumlichen Abstand zwischen einem lärmemittierenden Gewerbebetrieb und dem benachbarten Wohnhaus gegeben sein.

Leitsätze des Autors

Bayerischer VGH, Urteil vom 02.11.2004, Az. 20 ZB 04.1559

"Ein-Mann-Tischlereien" sind in Dorfgebieten jedenfalls dann zulässig, wenn die Einhaltung der Richtwerte der TA-Lärm konkret zu erwarten ist.
Zum Schutz der benachbarten Wohnbevölkerung in den "Tagesrandzeiten".

Die Entscheidung ist rechtskräftig.

1. Der Sachverhalt

Die Kläger wenden sich als Nachbarn gegen die Zulassung einer "Ein-Mann-Tischlerei" in einemWeiler, dessen planungsrechtliche Einordnung umstritten ist. Der angefochtene Baugenehmigungsbescheid kürzt die Betriebszeiten der streitigen Anlage auf Montags bis Freitags von 8.00-20.00 Uhr und Samstags von 8.00 -18.00 Uhr.

2. Die Gerichtsentscheidung

a. Übergang von landwirtschaftlicher Nutzung in ein Wohngebiet

Bezüglich der Frage, ob im bauplanungsrechtlichen Sinn ein Ortsteil oder Außenbereich gegeben ist, dürfte dieser Weiler einen Grenzfall darstellen, zumal die Frage in bisherigen Verfahren offenbar unterschiedlich beantwortet wurde. Ausweislich der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, das für die nähere Bestimmung des Gebotes der Rücksichtnahme an die für Misch- und Dorfgebiete geltenden Bestimmungen anknüpft, kommt es auf die Frage aber nicht an. Falls es sich um einen Ortsteil handelt, ist von einem Dorfgebiet auszugehen. Wie das Verwaltungsgericht im einzelnen ermittelt hat und wie die zahlreich vorliegenden Lichtbilder zeigen, wird im Weiler teilweise noch Landwirtschaft betrieben und sind darüber hinaus zahlreiche weitere Gebäude von der ehemals betriebenen Landwirtschaft geprägt. Geringere oder größere Entfernungen spielen dabei keine Rolle, da eine so kleine Ansiedlung nur in gewaltsamer Weise in verschiedene Gebietstypen aufgeteilt werden könnte. Ehemalige landwirtschaftliche Betriebsgebäude bieten sich von ihrer Struktur her erfahrungsgemäß eher für eine gewerbliche oder handwerkliche Nachfolgenutzung als für eine Wohnnutzung an. Der offenkundige Wunsch der Kläger, der abseits gelegene Weiler möge sich von einem Dorfgebiet gleichsam nahtlos in ein reines Wohngebiet entwickeln, ist zwar verständlich, mit den rechtlichen und tatsächlichen Gegebenenheiten aber nicht zu vereinbaren.

b. Tischlerei und Wohnachbarschaft

Bei der planungsrechtlichen Beurteilung ist die Lärmentwicklung einer Tischlerei einer typisierenden Betrachtung zu unterwerfen. Im Rahmen dieser Beurteilung sollte sie nicht von verhaltensbezogenen Auflagen abhängig gemacht werden, die dem Wesen des Betriebes fremd sind und mit deren Nichteinhaltung in der Praxis zu rechnen wäre.

Tischlerwerkstätten sind grundsätzlich in Wohngebieten nicht zulässig. Dieser Grundsatz kann bei atypischen Fallgestaltungen Ausnahmen erfahren. (BVerwG vom 7.5.1971 DVBl 1971, 759; OVG Schleswig-Holstein vom 7.6.1999 1 M 119/98 Juris-Nr. MWRE 010330000). Größere Tischlereien können selbst in einem Mischgebiet unzulässig sein (OVG Nordrhein-Westfalen vom 31.1.1997 BRS 59 Nr. 202). Noch weitergehend hat der 26. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs kürzlich entschieden, dass Tischlereien selbst als "Ein-Mann-Betrieb" in Mischgebieten grundsätzlich unzulässig sind, soweit nicht ausnahmsweise eine atypische Fallgestaltung gegeben ist (BayVGH vom 22.7.2004 26 B 04.931).

Wenn aber nach dem Bundesverwaltungsgericht Tischlereien in Sonderfällen sogar in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig sein können, erscheint es schon vom systematischen Standpunkt aus nicht folgerichtig, sie selbst in Gestalt eines Ein-Mann-Betriebes aus Mischgebieten regelmäßig verbannen zu wollen. Außerdem blieben dabei die herkömmlichen Siedlungsstrukturen unberücksichtigt; denn dass sich in zahlreichen Stadtvierteln, die von Wohnnutzung geprägt sind, auch kleinere Schreinereien befinden, ist ein durchaus vertrautes Bild.

c. Lärmschutzauflagen, die dem Wesen des Betriebes fremd sind

Schließlich ist es in Bezug auf die Lärmrichtwerte der TA Lärm zwar richtig, dass diese nicht gleichsam zur Gewissensberuhigung als Genehmigungsgrundlage genommen werden dürfen, ohne sich um ihre praktische Einhaltbarkeit zu kümmern. Ist ihre Einhaltung unter vernünftigen, der Betriebsart angemessenen Bedingungen aber gesichert, dann besteht kein Grund, den Betrieb dennoch als "zu laut" einzustufen und in dem jeweiligen Gebiet nicht zuzulassen; immerhin ist die TA Lärm (siehe ihre Nr. 1) die maßgebliche Richtschnur zur Beurteilung des von einer Tischlerei (nicht genehmigungsbedürftige Anlage im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes) ausgehenden Lärms.

Hier liegt die Tischlerei nicht in einem Mischgebiet, sondern in einem Dorfgebiet. Obwohl sich beide Gebietstypen ansonsten bezüglich der Immissionsschutzanforderungen ähneln - gleiche Richtwerte nach der TA Lärm -, besteht ein für den vorliegenden Fall bedeutsamer Unterschied darin, dass im Dorfgebiet auch Betriebe zur Be- und Verarbeitung land- und forstwirtschaftlicher Erzeugnisse zulässig sind und damit insbesondere die Be- und Verarbeitung von Holz aus der Forstwirtschaft (§ 5 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO).
Es geht hier letztlich nicht um die Betriebsart, sondern um den zumutbaren Störungsgrad. Eine Zumutbarkeit unter typischen Umständen vorausgesetzt, bestünde kein Hindernis, eine Tischlerei als "sonstigen Gewerbebetrieb" im Dorfgebiet zuzulassen. Und was die Zumutbarkeit angeht, kann nicht außer Betracht bleiben, mit welchen Geräuschen die Bewohner eines Dorfgebietes ansonsten zu rechnen haben, und dies sind eben nach § 5 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO auch die Geräusche Holz verarbeitender Betriebe.
Das gilt in besonderem Maße, wenn die Siedlung weithin von Wäldern umgeben und aus einer ehemaligen Waldarbeitersiedlung hervorgegangen ist.

d. Besonderer Lärmschutz in Tagesrandzeiten

Ein besonderer Schutz der Tagesrandzeiten nach Nr. 6.5 TA Lärm ist für Dorfgebiete nicht vorgesehen. Der VGH München hat jedoch schon mehrmals darauf hingewiesen, dass unter dem Blickwinkel des Gebots der Rücksichtnahme diese Zeiten dennoch kritisch betrachtet werden müssen, wenn besondere Umstände wie Gemengelagen oder sonstige Besonderheiten i.S. von § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO gegeben sind und es um das Schutzbedürfnis von Wohnhäusern geht (so zuletzt BayVGH vom 25.3.2004 20 B 03.2225 S. 15 f. UA; für eine besondere Berücksichtigung der Tagesrandzeiten in Mischgebieten allgemein und insofern über die TA Lärm hinaus Bielenberg in Ernst-Zinkahn-Bielenberg, BauGB, Rdz. 11 zu § 6 BauNVO).
Denn es liegt auf der Hand, dass das Ruhebedürfnis der Wohnbevölkerung "nach getaner Arbeit", also an den Abenden und den Wochenenden, besonders ausgeprägt ist. Besondere Umstände in diesem Sinne könnten hier insofern gegeben sein, als der räumliche Abstand zwischen dem streitigen Betrieb und dem Wohnhaus der Kläger samt Terrasse verhältnismäßig gering ist.

Betriebszeiten Montags bis Freitags von 8.00-20.00 Uhr und Samstags von 8.00 -18.00 Uhr begrenzen den Lärm in einer Weise, die sowohl diesem Gesichtspunkt wie auch den Bedürfnissen der Tischlerei Rechnung trägt. Arbeiten in den frühen Abendstunden sind in der Landwirtschaft und damit auch in Dorfgebieten als durchaus üblich anzusehen.

3. Auswirkungen für die Praxis

Der VGH München betont zutreffend, dass in den Tagesrandzeiten ein gesteigertes Ruhebedürfnis besteht, das eine besondere Rücksichtnahme erfordert. Tagesrandzeiten sind morgens von 6.00 bis 8.00 Uhr und abends von 20.00 bis 22.00 Uhr; an Sonn- und Feiertagen sind Ruhezeiten von 13.00 bis 15.00 Uhr zu beachten (§ 2 der 18. BImSchV). Während dieser Zeiten schlafen nicht nur Kleinkinder und ältere Menschen, auch "nach getaner Arbeit" besteht ein ausgeprägtes Ruhebdürfnis.

Die Entscheidung eröffnet es betroffenen Wohnnachbarn, von den zuständigen Behörden nachträgliche Anordnungen zum Schutz ihres Ruhebedürfnis während der Tagesrandzeiten zu verlangen.

Über den Einzelfall hinaus weist die Entscheidung auch auf das Defizit hin, dass der Betrieb anderer lärmintensiver Einrichtungen wie etwa Flughäfen und Windenergieanlagen einer Begrenzung des Lärms für die Tagesrandzeiten bedarf.