Fiktive Bemessung von Arbeitslosengeld nach Elternzeit

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– ein Verstoß gegen europäisches Recht?

(aktualisierter Artikel auf dem Stand der Rechtsprechung vom 12.03.2009)

Nimmt eine berufstätige Mutter ihr Recht auf 3 Jahre Elternzeit in Anspruch und wird danach arbeitslos, so folgt oft der Schock: Denn nicht ihr früherer Verdienst wird bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes zu Grunde gelegt, sondern es erfolgt eine so genannte fiktive Bemessung.

Iris Sümenicht
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Sozialrecht
Turnerstr. 49
33602 Bielefeld
Tel: 0521/5577117
Web: http://www.recht-und-friedlich.de
E-Mail:
Kindschaftsrecht, Lebenspartnerschaftsrecht, Sozialversicherungsrecht, Familienrecht

Das Problem

Bei der fiktiven Bemessung werden die Arbeitslosen je nach beruflicher Qualifikation in 4 Gruppen eingeteilt. Ein nach diesen Gruppen gestaffelter bestimmter Prozentsatz des Durchschnittsverdienstes aller Beschäftigten wird dann zur Grundlage der Berechnung des Arbeitslosengeldes.

Das auf diese Weise ermittelte pauschale Arbeitslosengeld ist jedoch in der Regel wesentlich niedriger als es gewesen wäre, wenn der tatsächliche frühere Verdienst zu Grunde gelegt worden wäre.

Der Unterschied macht oft mehrere Hundert Euro weniger Arbeitslosengeld im Monat aus!

Seit einer Neuregelung im SGB III zum 1. Januar 2005 häufen sich diese Fälle, die von den betroffenen Müttern als äußerst ungerecht empfunden werden.

Einerseits will der Staat durch die Elternzeit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern und auf der anderen Seite werden dann Mütter, die diese Regelung in Anspruch nehmen, bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes benachteiligt. Verständlicherweise fühlen sich die Betroffenen nun sozusagen nachträglich für die Kindererziehungszeit „bestraft".

Kann dies vom Gesetz tatsächlich so vorgesehen sein und falls ja, was können die Betroffenen dagegen tun?

Die gesetzliche Grundlage

Die Regelung ist in § 130 SGB III in Verbindung mit § 132 SGB III gesetzlich verankert.

Zwar bleiben nach § 130 Absatz 2 Nr. 3 SGB III Erziehungszeiten bei der Ermittlung des Bemessungszeitraums außer Betracht, doch muss der Bemessungszeitraum innerhalb des so genannten Bemessungsrahmens liegen. Und dieser beträgt nur maximal 2 Jahre. Wer aber 3 Jahre Elternzeit in Anspruch nimmt, überschreitet diesen Zeitraum, so dass rein vom Wortlaut des Gesetzes her in den genannten Fällen in der Tat eine fiktive Bemessung vorzunehmen ist.

Verstoß gegen höherrangiges Recht

Zwar hat das Bundessozialgericht diese Regelung in zwei Entscheidungen vom 29.05.2008 unter den Aktenzeichen B 11a/7a AL 64/06 R und B 11a AL 23/07 R bestätigt. Allerdings ist noch ein weiteres Verfahren zu dieser Problematik beim Bundessozialgericht unter dem Aktenzeichen B 11 AL 1/08 R anhängig, das zur Zeit ruhend gestellt ist. Bei diesem Verfahren handelt es sich um das Revisionsverfahren zu einem Urteil des SG Berlin vom 29.05.2006, Aktenzeichen S 77 AL 961/06, in dem das SG Berlin der Klägerin zunächst Recht gegeben und ihr Arbeitslosengeld auf der Grundlage ihres tatsächlichen Verdienstes vor der Elternzeit zugesprochen hatte.

Außerdem spricht einiges dafür, dass die Regelung entweder vom Gesetzgeber so gar nicht gewollt war oder aber ein Verstoß gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen Grundrechte und gegen europäisches Antidiskriminierungsrecht, vorliegt.

Zur Begründung des Gesetzes hatte der Gesetzgeber nämlich angeführt, dass durch die Neuregelung das Leistungsrecht vereinfacht werden sollte und dies nicht auf Leistungseinschränkungen für die Arbeitslosen zielen würde.

So hat das Sozialgericht Dresden dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob die Regelung mit dem Gleichheitssatz aus Artikel 3 Grundgesetz vereinbar ist. Daneben kommt auch noch ein Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 4 Grundgesetz, der Mütter unter einen besonderen Schutz stellt, in Betracht.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Aktenzeichen: 1 BvL 11/07) steht noch aus.

In einigen Fällen, in denen Mütter weniger als zwei Jahre Elternzeit genommen haben, kann es auch sein, dass eine fiktive Bemessung dann vermieden werden kann, wenn die Mutterschutzzeiten bei der Bestimmung des Bemessungszeitraumes berücksichtigt würden. Die aktuelle gesetzliche Regelung des § 130 SGB III sieht dies nämlich nicht vor. Nach Ansicht des Sozialgerichts Aachen könnte hierin ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 4 Grundgesetz zu sehen sein. Aus dieser Vorschrift ergibt sich der bindende Auftrag an den Gesetzgeber, jeder Mutter den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft zukommen zu lassen. Das SG Aachen hat deshalb dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 130 Abs. 1 Satz 1 SGB III mit Art. 6 Abs. 4 GG vereinbar ist, soweit der Bemessungszeitraum nicht die Zeit des Mutterschutzes umfasst (Beschluss vom 23.07.2007, S 21 AL 38/06). Auch diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht noch aus.

Außerdem spricht vieles dafür, dass die Regelung vor dem Hintergrund europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien keinen Bestand haben kann.

Hier kommt ein Verstoß gegen die Richtlinie 79/7/EWG, die die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit betrifft, in Betracht. Danach ist jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere in Bezug auf die Berechnung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung, mit der Richtlinie unvereinbar.

Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren einen wesentlich höheren Anteil der Angehörigen eines Geschlechts benachteiligen, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind angemessen und notwendig und durch nicht auf das Geschlecht bezogene sachliche Gründe gerechtfertigt.

Da immer noch wesentlich mehr Frauen als Männer Erziehungszeiten in Anspruch nehmen und daher von der Regelung der §§ 130, 132 SGB III bezüglich der Berechnung des Arbeitslosengeldes benachteiligt werden, liegt hier eine mittelbare Diskriminierung vor, die auch nicht sachlich gerechtfertigt ist.

Die genannte Richtlinie ist für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich und geht nach europarechtlichen Grundsätzen deutschem Recht vor. Ein Verstoß führt zur Unanwendbarkeit der gegen die Richtlinie verstoßenden Regelung, hier dürfte dies also die Unanwendbarkeit des starren Bemessungsrahmens von 2 Jahren bzw. der fiktiven Bemessung zur Folge haben.

Was betroffene Frauen tun können

Mütter, die von dieser Regelung betroffen sind und deren Arbeitslosengeld deshalb fiktiv bemessen wird, sollten gegen den Arbeitslosengeldbescheid Widerspruch einlegen. Da die Regelung jedoch vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt wird, hat der Widerspruch in der Regel keinen Erfolg. Ich rate daher dazu, aus Kostengründen das Widerspruchsverfahren selbst durchzuführen und sich erst im Klageverfahren anwaltlich vertreten zu lassen. Hierfür übernehmen übrigens in der Regel die Rechtsschutzversicherungen die Kosten. Ist keine Rechtsschutzversicherung vorhanden, kann bei ungünstigen finanziellen Verhältnissen auch Prozesskostenhilfe beantragt werden.