Wer auffährt, hat Schuld! Oder?

Mehr zum Thema: Verkehrsrecht, Unfall, Straßenverkehr
5 von 5 Sterne
Bewerten mit: 5 Sterne 4 Sterne 3 Sterne 2 Sterne 1 Stern
1

Es gibt juristische Halbwahrheiten, die sich hartnäckig halten und die Zeiten überdauern. Eine der weit verbreitetesten und in allen Bevölkerungsschichten präsentesten dieser Halbwahrheiten, ist die Formulierung "Wer auffährt, hat Schuld!". Abgesehen davon, dass der Begriff der "Schuld" im Zivilrecht nicht angebracht ist (hier spricht man nämlich vom "Verschulden" und der "Verursachung"), ist der Satz auch inhaltlich bei weitem nicht immer richtig.

Im Einzelfall kann sich das Verschulden (ganz oder teilweise) auch auf den Vorausfahrenden verlagern.

Doch wie viel Wahrheit steckt in diesem Satz nun tatsächlich?

Um es vorwegzunehmen: So ganz falsch ist der Satz doch nicht.

Denn, wenn es zu einem Verkehrsunfall kommt und die Parteien gegeneinander prozessieren, weil beide die Ansicht vertreten, dass Sie den Verkehrsunfall nicht verschuldet haben, dann steht das Gericht vor einem Problem. Der oder die Richter haben den Unfall nicht miterlebt. Trotzdem müssen Sie aber entscheiden, wer nun seinen Schaden, in welcher Höhe ersetzt verlangen kann. Um dies entscheiden zu können, muss der Richter aber vorher die Frage klären, welche Partei den Unfall tatsächlich verursacht hat.

Zur Beantwortung dieser Frage bedient sich der Richter eines sog. "Beweises des ersten Anscheins". Es genügt ihm daher, dass der Vorausfahrende vorträgt und ggf. beweist, dass der Gegner aufgefahren ist. Der Richter geht dann zunächst einmal davon aus, dass der Auffahrende auch der Unfallverursacher ist. Gestützt wird dieser "Beweis des ersten Anscheins" auf die allgemeine Lebenserfahrung. Diese lehrt, dass zu geringer Sicherheitsabstand zum Vorausfahrenden und/oder zu hohe Geschwindigkeit des Auffahrenden, die häufigste Ursache von Auffahrunällen sind.

Nun liegt es am Auffahrenden diesen "Beweis" zu widerlegen. Die Rechtsprechung erkennt einige Fälle an, in denen eine Ersatzpflicht des Auffahrenden nicht besteht oder in denen dem Vorausfahrenden jedenfalls ein Mitverschulden anzulasten ist. Voraussetzung ist immer, dass es sich um einen atypischen Kausalverlauf handelt. Das bedeutet, dass es sich bei dem vorliegenden Unfall nicht um einen gewöhnlichen Auffahrunfall handeln darf, sondern dass aufgrund von bestimmten Umständen ein von der Norm abweichender Geschehensablauf anzunehmen ist.

Klassischer Fall ist das plötzliche, starke und vor allem grundlose Abbremsen des Vorausfahrenden. Hier nimmt die Rechtsprechung regelmäßig zumindest ein Mitverschulden des Vorausfahrenden an, so dass dieser nicht seinen gesamten Schaden ersetzt verlangen kann und sich Abzüge entgegen halten lassen muss.

So liegt es auch oft in den sog. "Spurwechsel-Fällen". Hier reicht es aus, dass der Auffahrende darlegen und beweisen kann, dass die konkrete Möglichkeit besteht, dass der Vorausfahrende in engem Zusammenhang mit dem Unfall die Spur gewechselt und dabei die strengen Sorgfaltsanforderungen des § 5 Abs. 4 StVO nicht eingehalten hat. Auf diese Art und Weise kann der Beweis der ersten Anscheins erschüttert und widerlegt werden.

Nennenswert sind auch die sog. "Einfädel-Fälle", zum Beispiel auf Autobahnen. In diesem Bereich spricht sogar der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Einfädelnden, der ja eigentlich der Vorausfahrende ist und es sich bei einer Kollision mit einem, die Autobahn schon befahrenden Fahrzeug, um einen Auffahrunfall handelt.

Die vorstehende Aufzählung ist natürlich nicht abschließend. Es sind mehr atypische Fälle denkbar. Meistens endet eine Rechtsstreitigkeit in solchen Fällen damit, dass eine Haftung nach Verschuldensanteilen festgestellt sind. Die Gerichte haben bei der Haftungsverteilung einen weiten Ermessensspielraum. Daher verbietet sich eine scheamtische Darstellung.

Zusammenfassend ist also zu sagen, dass es keinesfalls so ist, dass der Auffahrende immer "Schuld" am Unfall ist. Sie sind daher gut beraten, wenn Sie in eine solche Situation geraten, von einem vorschnellen Schuldeingeständnis Abstand zu nehmen und sich unter konkreter Schilderung der Tatsachen von einem Rechtsanwalt Ihres Vertrauens beraten zu lassen.

Das könnte Sie auch interessieren
Verkehrsrecht Die Fahrtenbuchauflage