Endlich erste Urteile zum § 81 Abs. 2 VVG. Bei einfachem Rotlichtverstoß darf die Vollkaskoversicherung den Anspruch um 50 % kürzen

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Endlich erste Urteile zum § 81 Abs. 2 VVG. Bei einfachem Rotlichtverstoß darf die Vollkaskoversicherung den Anspruch um 50 % kürzen

Nach § 81 Abs. 2 VVG ist die Versicherung berechtigt ihre Leistungen in einem der Schwere des Verschuldens der Klägerin entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Wie und nach welchen Maßstäben die hiernach gebotene Quotenbildung zu erfolgen hat, ist bislang in der Rechtsprechung noch nicht behandelt worden. Hierzu nun der folgende Fall:

(Landgericht Münster, Urteil vom 20.08.2009, 015 O 141/09)

 

Die Klägerin machte Ansprüche aus einer bei der Beklagten abgeschlossenen Vollkaskoversicherung geltend. Es gelten die AKB 2008 der Beklagten. Im Juli 2009 kam es zwischen dem Fahrzeug der Klägerin und einem anderen Fahrzeug an einer Ampelkreuzung zu einer Kollision. Bei dem Unfall entstand am Fahrzeug der Klägerin ein Schaden in Höhe von über 16.000,00 €. Im OWI- Verfahren wurde die Klägerin wegen eines Rotlichtverstoßes zur Zahlung einer Geldbuße verurteilt. Die in Anspruch genommene Versicherung hat die geltend gemachten Ansprüche in Höhe von 50 % reguliert.

 

Die Klägerin gab an, sie sei davon überzeugt, dass die Ampel für sie Grün gezeigt habe. Dies sei ihre subjektive Auffassung. Im Übrigen habe die Sonne so gestanden, dass sie geblendet worden sei und den Unterschied zwischen Rot und Grün nicht habe sehen können. Sie ist der Ansicht, jedenfalls subjektiv sei der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht gerechtfertigt.

 

Die Versicherung behauptete, die Klägerin sei bei Rot gefahren und habe dabei grob fahrlässig gehandelt. Sie beruft sich auf die teilweise Leistungsfreiheit gemäß § 81 Abs. 2 VVG und ist der Ansicht, sie könne sich auf einen "mittleren Grad" der groben Fahrlässigkeit berufen, was eine Leistungsfreiheitsquote von 50 % rechtfertige.

 

Das Landgericht Münster, Urteil vom 20.08.2009, 015 O 141/09 hat die Klage als unbegründet abgewiesen, da sich die Beklagte zu Recht auf eine mindestens hälftige Leistungsfreiheit gemäß der Ziffer A 2.17.2 der AKB 2008 der Beklagten beruft, der seinem Inhalt nach § 81 Abs. 2 VVG entspricht.

 

Die Voraussetzungen für die Anspruchskürzung lagen hier vor. Die Klägerin hat den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt. Es steht fest, dass die Klägerin trotz einer für sie rot anzeigenden Lichtzeichenanlage in den Kreuzungsbereich eingefahren ist und dadurch den Verkehrsunfall verursacht hat. Darin ist nicht nur ein besonders schwerwiegender objektiver Pflichtverstoß zu sehen, sondern auch, dass die Klägerin grob fahrlässig handelte, da sie die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und dabei unbeachtet gelassen hat, was ihr in dieser Situation hätte einleuchten müssen.

 

Angesichts der Vielzahl der zu verarbeitenden Eindrücke und Informationen unterlaufen jedem Kraftfahrer Fehler. Auch bei einem besonders sorgfältigen und aufmerksamen Kraftfahrer wird es gelegentlich vorkommen, dass er Verkehrseinrichtungen übersieht und/oder Verkehrsvorschriften übertritt. Die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Kraftfahrers sind jedoch unterschiedlich hoch. Sie hängen von der jeweiligen Verkehrssituation und von der Art der im Einzelfall zu beachtenden Verkehrsvorschriften ab. Zu den Verkehrseinrichtungen, die jeder Kraftfahrer mit besonderer Sorgfalt zu beachten hat, gehören die Verkehrssignalanlagen. Das Überfahren einer Kreuzung birgt hohe Gefahren, insbesondere wenn sie für einen Verkehrsteilnehmer durch rotes Ampellicht gesperrt ist. Deshalb sind auch besonders hohe Anforderungen an den Verkehrsteilnehmer zu stellen. Zwar gibt es keinen allgemeinen Grundsatz, nach der die Missachtung eines roten Ampellichts stets grob fahrlässig ist. Gleichwohl ist das Überfahren einer roten Ampel in aller Regel objektiv als grob fahrlässig zu bewerten. Von einem durchschnittlich sorgfältigen Kraftfahrer kann und muss erwartet werden, dass er an einer Kreuzung konzentriert die Ampelschaltung an einer Verkehrssignalanlage wahrnimmt und beachtet. Ob das Verhalten des Kraftfahrers auch subjektiv als unentschuldbar angesehen werden muss, hängt von den jeweiligen Umständen im Einzelfall ab. Dabei kann vom äußeren Geschehensablauf und vom Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge und deren gesteigerte Vorwerfbarkeit geschlossen werden.

 

Hier liegt auch in subjektiver Hinsicht ein unentschuldbares – das gewöhnliche Maß erheblich übersteigendes – Fehlverhalten vor, das die Voraussetzungen der groben Fahrlässigkeit erfüllt. Nur in Ausnahmefällen und bei Vorliegen besonderer Umstände sind vor diesem Hintergrund die objektiven oder ggf. die subjektiven Voraussetzungen der groben Fahrlässigkeit zu verneinen. Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Annahme eines Ausnahmefalles hier gerechtfertigt wäre, sind nicht ersichtlich.

 

Insbesondere kann sich die Klägerin auch nicht darauf berufen, sie habe aufgrund der Sonnenblendung einen falschen Eindruck von dem Licht der Ampel erhalten. Wenn sich ein Fahrer aufgrund einer Sonnenblendung nicht ganz sicher ist, welche Farbe die Lichtzeichenanlage anzeigt, darf er unter keinen Umständen einfach in den Kreuzungsbereich einfahren, sondern muss entweder sicherstellen, dass er die richtige Farbe ermitteln kann oder – wenn dies unmöglich ist – sich langsam in den Kreuzungsbereich hereintasten und dabei jegliche Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vermeiden. Dies hat die Klägerin vorliegend nicht getan. Ein den Anforderungen des Straßenverkehrs gerecht werdender Fahrer hätte sich sorgfältiger um die Ermittlung der tatsächlichen Ampelfarbe gekümmert.

 

Nach Ziffer A 2.17.2 der AKB 2008 ist die Beklagte somit aufgrund des Vorliegens der groben Fahrlässigkeit berechtigt, ihre Leistungen in einem der Schwere des Verschuldens der Klägerin entsprechenden Verhältnis zu kürzen.

 

Wie und nach welchen Maßstäben die hiernach gebotene Quotenbildung zu erfolgen hat, ist bislang in der Rechtsprechung noch nicht behandelt worden. In der Literatur werden für § 81 Abs. 2 VVG, der inhaltlich der Ziffer A 2.17.2 der AKB 2008 der Beklagten entspricht, verschiedene Modelle vorgeschlagen.

 

Teilweise wird vorgeschlagen, die Leistungspflicht des Versicherers generell auf maximal 50 % zu beschränken.

 

Teilweise wird vertreten, der reine Vorwurf der groben Fahrlässigkeit führe immer schon dann, wenn der VN keine ihn entlastenden Umstände vortrage, zu einer völligen Leistungsfreiheit.

 

Teilweise wird empfohlen, grundsätzlich von einem "Einstiegswert" von 50 % auszugehen. Beiden Parteien soll dann die Möglichkeit eröffnet werden, besondere Umstände des Einzelfalls vorzutragen und dann auch zu beweisen, die zu einer Verschiebung der Quote nach oben oder unten führen.

 

Ein anderer Teil der Literatur lehnt sämtliche vorgenannten Modelle mit der Begründung ab, dass Gerechtigkeitsbedenken bestünden, jeden Fall der groben Fahrlässigkeit gleich zu behandeln.

 

Die ersten beiden Meinungen schon deshalb abzulehnen, da eine derart starre Bewertung (stets 50 % bzw. stets leistungsfrei) der Intention des § 81 Abs. 2 VVG nicht gerecht wird. Dort ist ausdrücklich von einer Kürzung der Leistung gemessen am Grad der Schwere des Verschuldens die Rede. Dem würde eine stets gleichlautende Quote nicht gerecht.

 

Das Landgericht hält es nicht für überzeugend, stets von einem "mittlerer Einstiegswert" von 50 % auszugehen, da dies den jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls unter Umständen nicht gerecht werden kann. Steigt man immer zunächst bei 50 % ein und macht sodann eine höhere oder niedrigere Quote von dem Vorliegen weiterer Umstände abhängig, kann dies deshalb zu unsachgerechten Ergebnissen führen, da auch Fälle denkbar sind, in denen schon ohne Hinzutreten weiterer Umstände eine höhere oder niedrigere Quote angemessen ist. Insofern kann es daher geboten sein, je nach Umständen des Einzelfalls den "Einstiegswert" bereits höher oder niedriger als 50 % anzusetzen.

 

Vor diesem Hintergrund hält das Landgericht es vielmehr für sachgerecht, von einem Standard- Einstiegswert abzusehen und die Bemessung der Quote nach den besonderen Umständen des Einzelfalls entsprechend ohne starre Vorgaben vorzunehmen. Um dabei allerdings ein zu großes Auseinanderklaffen etwaiger Entscheidungen zu verhindern, hält es die Kammer für sinnvoll und geboten, einzelne Quotenstufen festzulegen, innerhalb derer dann die Bemessung zu erfolgen hat. So ist nach der Auffassung der Kammer ein Quotenmodell mit den einzelnen Quotenstufen 0,25, 50, 75 und 100 Prozent sinnvoll und sachgerecht, innerhalb dieser Stufen ist dann jeweils unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls die Quote nach dem Grad des Verschuldens zu bemessen.

 

Im vorliegenden Fall kann die darüber hinaus umstrittene Frage, wem jeweils die Darlegungs- und Beweislast für die Umstände obliegt, die zu einer höheren oder niedrigeren Quote führen sollen, offen bleiben. Das Landgericht ist im vorliegenden Fall nämlich der Auffassung, dass die Schwere des hier maßgeblichen Verstoßes so groß ist, dass jedenfalls eine Leistungsfreiheit von weniger als 50 % unter keinen Umständen angemessen ist. Unabhängig davon, ob die Klägerin einfach aus Unachtsamkeit das Rotlicht übersehen hat oder ob sie aufgrund der Blendung durch die Sonne bei unsicherer Lichtzeichenregelung unvorsichtig in den Kreuzungsbereich hinein gefahren ist, ist die Schwere der groben Fahrlässigkeit jedenfalls so hoch zu bewerten, dass eine mindestens 50 %ige Leistungsfreiheit sachgerecht ist. Damit wird berücksichtigt, dass das Missachten des Rotlichts im Straßenverkehr einen besonders gravierenden Pflichtverstoß darstellt und jegliche Unachtsamkeit in diesem Bereich als besonders schwerwiegend anzusehen ist.