Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

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Bei Untätigkeit des zuständigen Richters können Verfahrensbeteiligte eine Entschädigung für die Verzögerung des Verfahrens erhalten

Die richterliche Unabhängigkeit ist im Rechtsstaat ein hohes Gut (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG). Zudem darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden (Art. 101 Abs. 2 GG). Wer dem Rechtssuchenden mit seinem konkreten Rechtsbegehren bei einem Gericht als gesetzlicher Richter zugewiesen ist, wird von den Gerichtspräsidien im Vorhinein durch bindende Geschäftsverteilungspläne festgelegt (§ 21e GVG). Im Rahmen seiner Unabhängigkeit entscheidet der zuständige Richter darüber, wann er einen bei Gericht eingegangenen Antrag bearbeitet und eine Entscheidung erlässt. Ferner wann er in einem Gerichtsverfahren einen Verhandlungstermin anberaumt, auf den eine Entscheidung ergeht (§§ 216, 227 Abs. 4 ZPO). Hier muss sich der Richter von niemandem hereinreden lassen, weder vom Gerichtspräsidium, noch vom Justizministerium und auch nicht von den Prozessbeteiligten.

Dies kann insbesondere für die antragstellende (klagende) Partei in einem Gerichtsverfahren zu einer misslichen Situation führen, nämlich wenn der zuständige Richter über Jahre hinweg ohne erkennbaren oder sachlichen Grund keine Entscheidung erlässt bzw. keinen Termin anberaumt. Auf Eingaben der Prozessbeteiligten wird seitens des Gerichts entweder gar nicht reagiert, oder es kommen nichtssagende "Abwimmelungen".

Welche Ursachen kann es für untätige Richter geben?

Die Ursachen für eine solche Untätigkeit können vielfältig sein. Der Richter kann schlicht überlastet und/oder überfordert sein. (Es ist auch schon vorgekommen, dass Richter auf Grund unerkannter psychischer Erkrankungen arbeitsunfähig wurden und über Jahre gar nichts mehr gemacht haben. Wegen der richterlichen Unabhängigkeit ist die Suspendierung solcher Richter schwierig.) Es kann sein, dass am Gericht - im Verhältnis zum Geschäftsanfall - zu wenige Richterstellen besetzt sind. Auch längere Erkrankung eines Richters kann eine Ursache sein. Es kann auch sachliche Gründe geben, z.B.weil Zeugen nicht erreichbar sind, Unterlagen nicht vorliegen, die Durchführung von Amts- und Rechtshilfe durch andere Gerichte oder Behörden auf sich warten lässt oder ein Sachverständiger sich mit der Erstattung eines Gutachtens Zeit lässt. Möglicherweise kann der Grund aber auch Befangenheit des Richters gegenüber einem Prozessbeteiligten oder dessen Begehr sein.

Im Fall der Befangenheit gibt es die Möglichkeit, den Richter abzulehnen (§ 42 ZPO). Vor einer Ablehnung wegen Befangenheit muss der betroffene Richter eine dienstliche Stellungnahme abgeben (§ 44 Abs. 3 ZPO). Gerade befangene Richter schieben dann häufig irgendwelche pseudo-"sachlichen" Vorwände für ihre Untätigkeit vor. Mit einem Befangenheitsgesuch durchzudringen, gestaltet sich in der Praxis oft schwierig.

Nach der bis 2011 geltenden Rechtslage hatten Rechtssuchende praktisch keine effektiven Möglichkeiten, gegen richterliche Untätigkeit vorzugehen. Die ZPO sieht ein Rechtsmittel- und Rechtsbehelfssystem nur gegen beschwerende Entscheidungen des Gerichts vor. Der Fall, dass ein Gericht gar nicht entscheidet, ist in der ZPO nicht geregelt. Einige Gerichte entwickelten als sog. "außerordentlichen" gewohnheitsrechtlichen Rechtsbehelf die sog. "Untätigkeitsbeschwerde". Wann eine solche Beschwerde im konkreten Fall zulässig war, blieb jedoch weitgehend unklar und dem Wohlwollen der jeweils übergeordneten Gerichtsinstanz anheim gestellt.

Untätigkeit des Richters stellt Verstoß gegen Rechtsstaatsprinzip dar

Diese Situation war äußerst unbefriedigend. Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt der sog. Rechtsgewährungsanspruch: Der Rechtssuchende hat gegen den Staat und die für ihn handelnden Gerichte einen Anspruch darauf, dass in angemessener Zeit über sein Rechtsbegehren entschieden wird. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat dies aus der Verbürgung eines rechtsstaatlichen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hergeleitet und den deutschen Gesetzgeber verpflichtet, dieses Erfordernis in die nationale Gesetzgebung umzusetzen (Kirsten ./. Deutschland, Urt. v. 15.02.2007 – Nr. 19124/02: Verfahrensdauer von 9 Jahren ist zu lang).

Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren entschädigt Verfahrensparteien

Der Gesetzgeber ist dem nachgekommen durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl. I 2011, 2302). In das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) wurden die §§ 198 - 201 eingefügt. (Früher waren unter diesen "Hausnummern" im GVG die abgeschafften Gerichtsferien geregelt.)

Einen Rechtsbehelf, mit dem eine Terminierung oder Sachbearbeitung durch den Richter erzwungen werden kann, sieht das Gericht nicht vor. Auf diese Weise soll die richterliche Unabhängigkeit gewahrt werden. Eine überlange Verfahrensdauer stellt auch keinen Berufungs- oder Revisionsgrund (BSG, Beschluss vom 21.05.2013, Az.: B 14 AS 315/12 B) dar. Der Gesetzgeber hat sich vielmehr für die Entschädigungslösung entschieden. Auf diese Weise soll der betroffene Verfahrensbeteiligte eine finanzielle Entschädigung für die Nachteile erhalten, die ihm durch eine überlange Verfahrensdauer entstehen. Zugleich soll ein mittelbarer Druck auf die Justiz- und Gerichtsverwaltungen ausgeübt werden, die Organisation und Ausstattung der Gerichte so zu gestalten, dass angemessene Verfahrensdauern gewährleistet werden.

Die Voraussetzungen für eine Entschädigung

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird "angemessen entschädigt", "wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet." Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritte (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). ) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Die Entschädigung beträgt 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen (§ 198 Abs. 2 GVG).

Die Wiedergutmachung auf andere Weise ist insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Diese Feststellung ist auch neben der Festsetzung von Entschädigung zulässig (§ 198 Abs. 4 GVG).

Kein Anspruch auf Entschädigung ohne Verzögerungsrüge

Ein Anspruch auf Entschädigung besteht aber nur, wenn der Verfahrensbeteiligte zuvor im Verfahren eine Verzögerungsrüge erhoben hat; diese ist erst zulässig, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird (§ 198 Abs. 3 GVG). Anwendbar sind die Vorschriften in allen Gerichtsbarkeiten, also vor Zivil-, Arbeits-, Verwaltungs-, Sozial-, Finanz- und Strafgerichten, auch in Verfahren auf Beantragung von Prozesskosten- oder Verfahrenskostenhilfe und in einstweiligen Rechtsschutzsachen. Ausgenommen sind lediglich eröffnete Insolvenzverfahren (§ 198 Abs. 6 Nr. 1, letzter Halbsatz GVG).

Klage auf Entschädigungs- bzw. Feststellungsanspruchs erst sechs Monate nach Rüge möglich

Erst nach Ablauf von sechs Monaten ab der Rüge kann vom Verfahrensbeteiligten Klage auf Durchsetzung seines Entschädigungs- bzw. Feststellungsanspruchs erhoben werden (§ 198 Abs. 5 GVG). (Ansprüche aus der Zeit vor Inkrafttreten des Gesetzes am 03.12.2011 können gemäß Art. 23 ÜGRG nur geltend gemacht werden, wenn die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes im Verfahren erhoben wurde. Unverzüglich bedeutet gemäß § 121 BGB innerhalb von 14 Tagen, OLG Karlsruhe, Urteil vom 05.03.2013, Az.: 23 SchH 1/13). Ausschließlich zuständig für die Klage auf Entschädigung gegen ein Land ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk die Regierung des beklagten Landes ihren Sitz hat. Zuständig für die Klage auf Entschädigung gegen den Bund ist der Bundesgerichtshof (§ 201 Abs. 1 GVG). (Die Bundeszuständigkeit ist auch für Bußgeld- und Strafverfahren gegeben, die von der Bundesagentur für Arbeit geführt werden, OLG Hamm, Beschluss vom 26.04.2013, Az.: I - 11 EK 12/13.) Die Gerichte, die über die Entschädigungen zu entscheiden haben, fertigen einen Entschädigungsbericht an, in dem sie feststellen, ob die Verfahrensdauer unangemessen lang war. In diesen Entschädigungsbericht dürfen nur Umstände ab dem Zeitpunkt der Erhebung der Entschädigungsrüge durch den Verfahrensbeteiligten (§ 198 Abs. 3 GVG) berücksichtigt werden.

Das Oberlandesgerichts des Landes Sachsen-Anhalt hat die gesetzlichen Bestimmungen in seinem Urteil vom 30.05.2013 (Az.: 1 ESV 4/12) folgendermaßen konkretisiert:

Gesamtbetrachtung des Verfahrens wichtig

Für die Beurteilung des Entschädigungsgerichts, ob ein Gerichtsverfahren von unangemessener Dauer war oder ist, kommt es auf eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls an. Die durchschnittliche Dauer von Verfahren oder die Gestaltung eines Idealverfahrens können teilweise indiziell herangezogen werden, sind aber keinesfalls der Maßstab. Für einen Zivilprozess, der ohne Beweisaufnahme entschieden werden kann, kann von der Annahme des EGMR einer durchschnittlichen Verfahrensdauer eines Jahres pro Instanz ausgegangen werden.

Rechtsschutz erstreckt sich nicht auf inhaltliche Überprüfung von Gerichtsentscheidung

Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren dient nicht der inhaltlichen Überprüfung ergangener Gerichtsentscheidungen. Aber auch richterliche Verfahrenshandlungen können zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führen, wenn sie bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionierenden Zivilrechtspflege nicht mehr verständlich sind.

Für längere Zeiten des Nichtbetriebs müssen aus den Akten entweder nachvollziehbare Gründe ersichtlich sein oder sich von selbst ergeben (z. B. eine besondere Schwierigkeit der Sache) oder sie müssen vorgetragen und im Streitfall bewiesen werden. Für eine aktenkundige Begründung reichen nichtssagende und/oder floskelhafte Wendungen nicht aus (hier: "Bearbeitung zur Zeit nicht möglich", bzw. "aus dienstlichen Gründen"). Aus Handlungen des Gerichts, die auf eine nicht mehr nachvollziehbare Erschwerung der Rechtsverfolgung gerichtet sind, und zu einer Verzögerung des Verfahrens führen, kann sich das Bedürfnis einer Entschädigung ergeben, also das Nichtausreichen einer Wiedergutmachung auf andere Weise.

Verschieden Beispiele aus der Rechtssprechung

Der BFH ist bei einer Verfahrensdauer von fünfeinhalb Jahren im erstinstanzlichen Verfahren von unangemessener Dauer ausgegangen (Urteil vom 17.04.2013, Az.: X K 3/12). Es kommt hie aber immer auf die Umstände des Einzelfalls an, so dass diese Rechtsprechung nur als allgemeine Orientierungshilfe dienen kann; sie ist nicht ohne weiteres auf alle anderen Fälle übertragbar.

In schwierigen Verfahren mit komplizierten medizinischen und betriebswirtschaftlichen Fragen besteht kein Anspruch auf Geldentschädigung sondern nur auf Feststellung einer Verfahrensüberlänge, wenn der Kläger den Streitgegenstand fortlaufend erweitert und dadurch selbst entscheidend zur bisherigen Länge des Verfahrens beigetragen hat (Schlesig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 18.04.2013, Az.: 18 SchH 3/13).

Bei geringfügiger Höhe der in den Ausgangsverfahren streitigen Geldleistung (48,06 €) ist gemäß § 198 Abs. 2 S 2 i.V.m. Abs. 4 S 1 GVG Wiedergutmachung durch Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ausreichend, LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18.03.2013, Az.:L 15 SF 10/12 EK AS.

Wer infolge eines überlangen Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleidet, hat grundsätzlich einen Entschädigungsanspruch gegen das Land. Die Angemessenheit einer Verfahrensdauer richtet sich dabei nach den Umständen des Einzelfalls. Insoweit muss der Geschädigte substantiiert vortragen, worin die unangemessene Dauer sowie der Nachteil liegt. Die Bezugnahme auf statistische Erhebungen zur als regelmäßig anzusehenden Verfahrensdauer reicht regelmäßig nicht aus. Der Kläger rügte eine Verzögerung von 38 Monaten über die durchschnittliche Verfahrensdauer von 6,8 Monaten bei Umgangsrechtsverfahren (OLG Köln, Urteil vom 21.03.2013, Az.: 7 SchH 5/12).

Eine Verfahrensdauer von 5 Jahren ist bei einem Verwaltungsgerichtsverfahren mit durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad unangemessen lang (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.03.2013, Az.: OVG 3 A 13.12).

Eine Verfahrensdauer von mehr als 26 Monaten ist regelmäßig nicht als überlang einzustufen, wenn sich die Dauer daraus ergibt, dass der Kindesvater Umgang mit den gemeinsamen Kindern begehrt, bei Einleitung des Verfahrens die Vaterschaft nicht anerkannt war und die Verzögerung durch Rechtsbehelfe des Vaters sowie die notwendige Hinzuziehung des Jugendamts begründet ist (OLG Köln, Beschluss vom 15.03.2013, Az.: 7 SchH 6/12).